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Russische Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachten für viele russische Komponisten schicksalhafte Auswirkungen mit sich, die sich im jeweiligen Œuvre höchst unterschiedlich spiegeln. Ein Programmschwerpunkt im Musikverein nimmt die russische Musik in diesen Zeiten des Umbruchs in den Fokus – im breiten Spektrum vom Orchesterkonzert bis zum Liederabend und vom Stummfilm mit Livemusik bis zum Education-Programm.

Musik im Umbruch. Russische Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – dieser Programmschwerpunkt war geplant, um ein spannendes Kapitel der Geschichte aufzuschlagen. Wie haben sich Krieg, Revolution und die Pressionen totalitärer Systeme auf das musikalische Schaffen ausgewirkt? Welche Wege gingen Komponisten wie Igor Strawinsky, Sergej Rachmaninow, Sergej Prokofjew und Dmitrij Schostakowitsch unter dem Zwang der Verhältnisse? Diese Fragen, die wir aus historischer Perspektive stellen wollten, haben durch die jüngsten Ereignisse, den Krieg Russlands gegen die Ukraine, eine bestürzende Aktualität erlangt. Von Umbruch kann im Blick darauf (noch) nicht die Rede sein. Wir erleben einen Bruch: den Bruch des Völkerrechts, den Bruch eines humanen Konsenses, den wir im Europa des 21. Jahrhunderts für unverbrüchlich hielten. Traurig und bestürzt stehen wir alle vor dieser Entwicklung. Unser Programmschwerpunkt wird selbstverständlich gespielt wie geplant – die exemplarischen Fragen, die er aufwirft, geben uns Anlass zur weiterführenden Diskussion. Abweichend von unserer ursprünglichen Planung aber führen wir Konzerte dieses Zyklus nicht mit einem staatlichen russischen Orchester durch. Unsere Einladung an das Mariinsky Orchester und seinen Chefdirigenten Valery Gergiev haben wir zurückgezogen. Wir danken dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt und seinem Chefdirigenten Alain Altinoglu, dass sie die hierfür geplanten Programme mit raren Werken des Repertoires kurzfristig übernehmen werden. Die Situation in der Ukraine verfolgen wir weiter mit Sorge und Aufmerksamkeit – unser Programm werden wir gegebenenfalls an die Situation anpassen …

Igor Strawinsky spielte in Paris Karten-Poker, Dmitrij Schostakowitsch gedachte in Leningrad trauernd seiner verstorbenen Frau, Sergej Rachmaninow öffnete in New York seine romantische Musikerseele für Jazzharmonien, Sergej Prokofjew schenkte in einem bayrischen Kloster einem höllisch virtuosen Werk ein zweites Leben: vier russische Komponisten, deren Biographien, Schicksale und künstlerisches Schaffen dramatisch von den weltpolitischen Turbulenzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst und geprägt wurden. In einem eigenen Schwerpunkt lässt der Musikverein diese und weitere Schicksale und die expressive, eine tragische Epoche erfassende Musik anhand ausgewählter Werke für das Publikum wieder lebendig werden.

Der Musikverein veranstaltete vom 15. bis 23.10.2022 das Festival „Musik im Umbruch. Russische Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Bei einem Konzert kam es zu einer Programmänderung: Sergej Prokofjews Kantate „Alexander Newskij“ op. 78 wurde ersetzt durch Dmitrij Schostakowitschs 5. Symphonie, op. 47. Die Gründe für die Programmänderung wurden im Konzert selbst durch den Intendanten des Musikvereins, Dr. Stephan Pauly erläutert, sowie in einer ausführlichen Diskussionsrunde nach dem Konzert.

Die Situation in dem von Kriegen und nach dem Zerfall der deutschen und österreichischen Monarchien zunehmend vom Faschismus beeinträchtigten Westeuropa bewog Strawinsky und Rachmaninow schließlich, in die USA auszuwandern. Rachmaninow fühlte sich nie wirklich heimisch in den USA, pflegte den Kontakt zu anderen Exilrussen und beobachtete mit großem Interesse die Entwicklungen in seinem Heimatland, das er 1917 – ohne es zu wissen, für immer – verließ, da die gesellschaftlichen Umwälzungen während der Revolutionswirren seinem Künstlerdasein die wirtschaftlichen Grundlagen entzogen. Beginnend mit dem Vierten Klavierkonzert sollte der von Heimweh geplagte Komponist und Pianist im amerikanischen Exil nur mehr sechs Werke schreiben. Sein Drittes, eigens für eine Konzerttournee mit dem Boston Symphony Orchestra komponiertes und in New York unter Walter Damrosch uraufgeführtes Klavierkonzert hatte Rachmaninow im Sommer 1908 noch in Iwanowka, dem Landgut seiner Frau, vollendet.

Strawinsky ließ sich 1941 nach fast drei Jahrzehnten im schweizerischen und französischen Exil in Beverly Hills nieder. Noch in Paris komponierte er im Auftrag des American Ballet eine neue, im Musikverein von Alain Altinoglu und dem hr-Sinfonieorchester konzertant aufgeführte Ballettmusik mit dem Titel „Jeu de cartes“, in der Strawinsky die Karten eines Pokerspiels zu tanzenden Figuren machte. Die USA empfingen den berühmten Russen mit offenen Armen. Obwohl nur neun Jahre jünger als der emphatische Postromantiker Rachmaninow, stand Strawinsky für eine gänzlich andere, neue Komponistengeneration. Bei ihrem einzigen persönlichen Aufeinandertreffen im gemeinsamen Exil vermieden es Rachmaninow und Strawinsky, über Musik zu reden, zu gegensätzlich waren die Positionen. Aber 1942 beherrschte ohnedies ein anderes Thema die Gemüter: die Sorge um das russische Heimatland im Weltkrieg. Der Kampf der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland machte beide Komponisten wieder zu Patrioten. Das Schicksal der Landsleute im Krieg ließ davor bezogene, kritische politische Positionen gegenüber den Sowjets in den Hintergrund treten. Rachmaninow spielte in den Kriegsjahren sogar Benefizkonzerte für die sowjetische Armee.

Der temperamentvolle und kompositorisch kompromisslose Prokofjew, der am Beginn seiner Karriere vor allem mit zwei Klavierkonzerten und Klavier-Solowerken beim russischen Publikum für stürmische Begeisterung und ebenso Ablehnung sorgte, konnte sich den politischen Ereignissen zunächst nicht entziehen: „Die Februar-Revolution wurde von mir und den Kreisen, in denen ich verkehrte, freudig begrüßt. Während des Aufstandes war ich auf der Straße in Petrograd und verbarg mich von Zeit zu Zeit hinter Mauervorsprüngen, wenn die Schießerei allzu heftig wurde …“ Die „freudige“ Stimmung wurde hingegen bald von Sorgen über die unsichere Situation für die Kunst inmitten der gesellschaftlichen Umbrüche abgelöst. So war Prokofjew froh, als ihm ein gewogener Kommissar für Volksbildung eine Genehmigung zur Ausreise ins Ausland verschaffte. Im Frühjahr 1918 trat Prokofjew über Japan die Reise in die USA an. Erst zehn Jahre später, nach längeren Aufenthalten in Westeuropa, kehrte Prokofjew, von Heimweh getrieben, wieder in die nun schon von Stalin beherrschte Sowjetunion zurück.

Das hr-Sinfonieorchester und Alain Altinoglu beleuchten im Großen Musikvereinssaal Prokofjews wechselvolles Leben und Schaffen anhand von zwei exemplarischen Werken: dem noch im vorrevolutionären St. Petersburg komponierten, radikal alle Traditionen über Bord werfenden Tastenfurioso des Zweiten Klavierkonzerts, dessen Notenmaterial während der Revolution ein Raub der Flammen und von Prokofjew im Exil in Süddeutschland rekonstruiert wurde, und der 1939 in Moskau zu einer Kantate umgearbeiteten, archaisch-klangmächtigen Filmmusik zu Eisensteins Streifen „Alexander Newskij“, der den von Fürst Newskij angeführten Kampf der russischen Völker im 13. Jahrhundert gegen die eindringenden Ritter vom Deutschen Orden schildert und im Stalin-Regime erst unterdrückt und dann, nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941, propagandistisch eingesetzt wurde.

Nicht fehlen darf in diesem Schwerpunkt Prokofjews musikalisches Märchen „Peter und der Wolf“, das mit Marko Simsa und dem Ketos Quintett bei „Allegretto“ für Kinder ab sechs Jahren auf dem Programm steht. Prokofjew komponierte und textete das Stück 1936 im Auftrag der Intendantin des Moskauer Zentralen Kindertheaters. Sie war mit einem General der sowjetischen Armee verheiratet, der wiederum ein Freund von Dmitrij Schostakowitsch war. Als der General dann wenige Jahre später Opfer der furchtbaren Stalin-„Säuberungen“ wurde, musste auch Schostakowitsch um sein Leben zittern. Er blieb aber trotz wiederholter Verfolgung und Verfemung während Stalins Schreckensherrschaft als einziger bedeutender russischer Komponist immer in der Sowjetunion. Das Artis-Quartett wird sich wiederum tief-ernster Kammermusik Schostakowitschs widmen, einem Genre, das nicht für die breite sowjetische Öffentlichkeit bestimmt war und in dem sich der Komponist gewissermaßen privat äußerte: eine wahrhaftige musikalische Seelenschau mit all dem von der politischen Verfolgung ausgelösten Leid und der sowjetischen Tragik.

Rund um das zentrale Viergestirn Strawinsky–Prokofjew–Rachmaninow–Schostakowitsch werden noch weitere, die russische Moderne mitgestaltende Komponisten in diesem Programmkosmos des Musikvereins aufleuchten, wie etwa der klangmagische Mystiker Alexander Skrjabin in einem Klavierrecital von Marc-André Hamelin oder der vor den einfallenden Nationalsozialisten aus seiner Heimat Polen in die Sowjetunion geflüchtete Mieczysław Weinberg, ein enger Freund Schostakowitschs in Moskau, dessen Musik als eine klingende Poesie zwischen Schrecken und Hoffnung erst nach seinem Tod wiederentdeckt wurde und von dem das Artis-Quartett eines seiner berührenden Streichquartette spielen wird. Im russischen Schwerpunktprogramm sind zudem ein spannendes Projekt in einem der Wort-Musik-Zyklen mit Lesung aus Boris Pasternaks epochalem Roman „Doktor Schiwago“ und dazu Musik von Skrjabin und Rachmaninow sowie die Aufführung des Stummfilms „Aelita – Der Flug zum Mars“ aus den von Not gezeichneten frühen Revolutionsjahren in der UdSSR mit (2010) dazu komponierter Livemusik von Dmitri Kourliandski zu erleben.

Ein Text von Rainer Lepuschitz.

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