Zweites Debüt: Nathalie Stutzmann

© Brice Toul
In ihrer ersten Karriere war Nathalie Stutzmann eine international renommierte Sängerin und als solche auch im Musikverein zu Gast. Dann sattelte sie um: Am Pult der Wiener Symphoniker gibt die vielseitige Französin im Oktober ihr zweites Debüt bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien: Nathalie Stutzmann, die Dirigentin.

Von Ulrike Lampert

19.07.2024

26. März 1994, Großer Musikvereinssaal: Concentus Musicus Wien, Nikolaus Harnoncourt, Arnold Schoenberg Chor, Wiener Sängerknaben. Und im prominent besetzten Solistenensemble von Bachs „Matthäus-Passion“ ein neuer Name: Nathalie Stutzmann, 28 Jahre jung. An ihr Debüt bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien erinnert sich die französische Musikerin auch dreißig Jahre später noch, als wäre es gestern gewesen: „Es war schon etwas sehr Besonderes für mich, im Musikverein angekommen zu sein, mit Nikolaus Harnoncourt und dann auch noch mit einem meiner liebsten Werke. Ehrlich gesagt war ich aufgeregt, nervös und glücklich zugleich. Ich erinnere mich an eine fantastische Woche in Wien, in diesem Saal. Es war ein Traum, da zu sein!“

Der Traum wiederholte sich. Ihre Laufbahn als Sängerin führte Nathalie Stutzmann in den darauf folgenden Jahren in den Musikverein zurück, auch mit Wiens großen Symphonieorchestern: mit den Wiener Symphonikern unter Leopold Hager mit der „Alt-Rhapsodie“ von Johannes Brahms und mit den Wiener Philharmonikern unter Michael Boder als Solistin in Frank Martins Oratorium „Golgotha“. Allein das Repertoire dieser Auftritte zeigt eindrucksvoll das weite Spektrum an Werken, mit dem sie international Furore machte.

Dass sie als weltweit erfolgreiche Sängerin den Schritt wagte, gewissermaßen noch einmal von vorn zu beginnen und Dirigentin zu werden, lag für Nathalie Stutzmann durchaus nahe: „Es gab einen Punkt, an dem ich spürte, ich habe alle meine Träume als Sängerin verwirklicht – und habe noch so viel zu sagen. Deshalb musste ich das Instrument finden, von dem ich immer geträumt hatte: das Orchester.“

Schon als Teenager habe sie den Wunsch verspürt zu dirigieren, verrät sie. Die frühe musikalische Ausbildung der Tochter zweier Opernsänger war facettenreich: Klavier, Violoncello, Fagott, Gesang freilich (zunächst bei der Mutter, schließlich als Meisterschülerin von Hans Hotter in Paris) – und auch Dirigieren. „Leider war mein Lehrer wenig aufgeschlossen, und ich habe schnell verstanden, dass die Zeit noch nicht reif war, als Frau mit dem Dirigieren wirklich Großes zu erreichen. Zu meinem Kernrepertoire als Dirigentin gehört heute die deutsche Romantik – und damals hieß es: Eine Frau kann nicht Wagner dirigieren, eine Frau kann dies nicht, eine Frau kann das nicht.“

„Ich kann mich viel besser mit hundert Musikern in meinen Händen ausdrücken, als ich es mit einer Stimme kann.“ – Nathalie Stutzmann

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Als sie an dem beschriebenen Punkt angekommen war, zog sie einige Dirigentenfreunde ins Vertrauen, mit denen sie viel gesungen hatte, zuallererst „Seiji Ozawa und Simon Rattle. Ich habe sie gebeten, ehrlich zu sein, und beide sagten: Nathalie, du musst das machen.“ Bestärkt durch solchen Zuspruch, wandte sie sich an den legendären finnischen Dirigierlehrer Jorma Panula, der sie als Schülerin annahm. „Das war perfekt für mich“, resümiert Nathalie Stutzmann. „Ich habe gelernt, was ich zu lernen hatte.“

Ihr Repertoire baute sie nach einer klaren Strategie auf: nach ihrer Lieblingsmusik: „Ich wollte alle Beethoven-Symphonien machen, alle Brahms-Symphonien, den ganzen Strauss, den ganzen Wagner. So bin ich vorangekommen. Das ist die Panula-Schule: Grundlegend für alles Weitere ist das Partiturstudium. Also habe ich wie verrückt gelernt und tu es noch immer. Und ich liebe es, weil Musik absolut mein Leben ist.“ Und nach der intellektuellen Arbeit kommt zum Tragen, was Nathalie Stutzmann als „absolut instinktives Talent“ bezeichnet: „Was der eigene Körper beim Dirigieren ausdrückt, hat eine unvorstellbar große Auswirkung auf das Ergebnis, auf die Qualität des Klangs. Das ist etwas, das man nicht lernen kann. Entweder man hat es, oder man hat es nicht. Ich würde mir nie überlegen, wie ich einen bestimmten Klang ins Orchester bringen kann. Das muss natürlich kommen. Wenn ich die Partitur in meinem Herzen trage, weiß ich genau, was ich hören will – und mein Körper drückt es aus.“

2008 gab Nathalie Stutzmann ihr Debüt als Dirigentin – auf Einladung von Seiji Ozawa mit dem Mito Chamber Orchestra in Japan. Im Jahr darauf gründete sie ihr eignes, auf historischem wie auch auf modernem Instrumentarium musizierendes Kammerorchester, Orfeo 55, mit dem sie oftmals in Personalunion als Dirigentin und Sängerin auftrat. Nach zehn erfolgreichen Jahren löste sie dieses Ensemble wieder auf, nicht zuletzt aus Zeitgründen, denn Gastdirigate führten sie längst quer über den Globus. Seit einigen Jahren schon konzentriert sie sich nun zu hundert Prozent aufs Dirigieren. „Meine Stimme ist immer noch gut“, sagt die Künstlerin, „aber ich mache jetzt, was ich immer machen wollte.“

Mittlerweile hat Nathalie Stutzmann so bedeutende Orchester wie das London Symphony Orchestra, das Orchestre de Paris, das NDR Elbphilharmonie Orchester Hamburg, das Boston Symphony Orchestra und das National Symphony Orchestra of Washington dirigiert und an vielen europäischen Opernhäusern wie auch an der New Yorker Metropolitan Opera gastiert. Nach ersten fixen Positionen in Dublin und im norwegischen Kristiansand ist sie seit 2021 Principal Guest Conductor des Philadelphia Orchestra und seit 2022 Music Director des Atlanta Symphony Orchestra. 2023 war sie – nach der Ukrainerin Oksana Lyniv – die zweite Frau, die bei den Bayreuther Festspielen am Dirigentenpult stand. Ihr „Tannhäuser“-Dirigat begeisterte Publikum und Kritiker gleichermaßen. Für diese Arbeit wurde sie auch mit dem „Oper! Award“ als „Best Conductor of the Year“ ausgezeichnet. Die Wiedereinladung nach Bayreuth für 2024 folgte.

Nathalie Stutzmann führt nun ein völlig anderes Leben. „Musikalisch ausgedrückt“, sagt sie, „ist es viel näher an meinem Herzen und an meinen Träumen, Dirigentin zu sein. Wenn ich es hätte früher machen können, hätte ich es gemacht. Ich kann mich viel besser mit hundert Musikern in meinen Händen ausdrücken, als ich es mit einer Stimme kann. Mein Gefühl sagt mir: Ich bin angekommen, wo ich hingehöre.“

Dass ihr Dirigierdebüt im Musikverein zugleich auch ihr Österreich-Debüt als Dirigentin ist, mag angesichts ihrer internationalen Erfolge durchaus verwundern. Und ohne Zweifel ist es hoch an der Zeit. Nathalie Stutzmann ist voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit Wiens Musikfreunden und mit den Wiener Symphonikern im Großen Musikvereinssaal.

Freitag, 25. Oktober 2024
Sonntag, 27. Oktober 2024

Wiener Symphoniker
Nathalie Stutzmann | Dirigentin
Edgar Moreau | Violoncello

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