Zeichen, Stimmen, Wunder: Arthur Honeggers „Jeanne d’Arc au bûcher“
Von Joachim Reiber
09.11.2024
Der Mythos lebt. Und wie! Jeanne d’Arc ritt ein in Paris, übers Wasser der Seine trabte sie in gleißender Rüstung auf strahlendem Ross, bevor sie, gemessenen Schrittes, Stufe um Stufe emporstieg und das Banner enthüllte: die olympische Flagge. So geschehen, so gesehen im Juli 2024. Jeanne d’Arc figurierte prominent in der Mega-Show, die man sich in Paris zur Eröffnung der Olympischen Spiele ausgedacht hatte. Atemberaubend gewandet, gegürtet ins Habit einer 29-jährigen Stardesignerin, zeigte sich die Jungfrau von Orléans, ewig jung, vor aller Welt. Jeanne! Sie ist und bleibt eine Gestalt, die für den großen Auftritt taugt. Ida Rubinstein dachte da nicht anders, als sie 1934 auf die Idee kam, sich ein Stück über Jeanne d’Arc schreiben zu lassen. Sie war Initiatorin und Geldgeberin, auf sie sollte die Hauptrolle zugeschnitten sein. Eine Frau, die jedes Schema sprengte: Die Rubinstein, Tänzerin, Schauspielerin, Bühnenmensch, erschuf sich selbst als erste Performancekünstlerin der Geschichte – extrem körperlich, exzessiv sinnlich, eine schwerreiche Leichtfüßige. Ihr Wohlstand erlaubte es ihr, dass sie mit 23 Jahren Diaghilews „Ballets russes“ in Paris verließ, um fortan ihr eigenes Ding zu machen – und das denkbar sensationell. Claude Debussy schrieb für sie „Le Martyre de Saint-Sébastien“, ein gigantisches Mysterienspiel, das dem Heiligen auch mit frivolem Kitzel diente – der Erzbischof von Paris verbot allen Katholiken den Besuch. Der Skandal machte sie, keine Frage, noch attraktiver. Es war eine Frage des Prestiges, für Ida Rubinstein zu schreiben. Strawinsky komponierte für sie, Ravel lieferte ihr 1928 mit dem „Boléro“ ein weiteres Erotikon.
1934 – die Rubinstein war offenbar wieder auf fromme Weise aus – wandte sie sich an den damals 42-jährigen Wahlpariser Arthur Honegger, um als Jeanne die Bühne zu erobern. Dass sie, einmal mehr, auf die große Wirkung zielte, konnte keinem Zweifel unterliegen. Honegger stand zu Diensten, auftragsgemäß lieferte er auch den Effekt. „Jeanne d’Arc au bûcher“ aber reicht als Meisterwerk weit darüber hinaus. „Ich denke“, sagt der Dirigent Alain Altinoglu, „,Jeanne d’Arc au bûcher‘ ist eines jener französischen Stücke, die viel tiefer gehen und philosophisch tiefgründiger sind, als man zunächst glauben würde. Poulencs ,Dialogues des Carmélites‘ zähle ich genauso dazu wie eben Debussys ‚Le Martyre de Saint-Sébastien‘ – Werke, die im 20. Jahrhundert religiöse Fragen in einen weiten Horizont stellen.“
„Eine Traumbesetzung! Marion Cotillard hat die perfekte Mischung aus Stärke und Zerbrechlichkeit für die Rolle der Jeanne.“
Alain Altinoglu
Dass diese „Jeanne d’Arc“ in so tiefe existenzielle und spirituelle Dimensionen vordringt, ist dem Dichter Paul Claudel zu danken – auch Honegger hätte es nicht anders gesagt. Der gesuchte Literat hatte zunächst gezögert, sich mit der historischen Figur zu befassen. Die Prozessakten der 1431 hingerichteten Jeanne sagten so viel, meinte er, und die Gedanken der 19-Jährigen seien darin „so wunderbar, so großartig, dass es wirklich für einen Schriftsteller höchst unklug und unschicklich wäre, daran irgendetwas ändern zu wollen“. Doch dann wurde er bekehrt. Während einer Bahnfahrt, so erzählte Claudel die Geschichte, sei „eine Geste der Jeanne d’Arc unabweislich“ vor ihm aufgetaucht. „Ich sah zwei in Ketten gefesselte Hände, die das Zeichen des Kreuzes machten, und schon drängte sich mir das ganze Textbuch der ,Johanna auf dem Scheiterhaufen‘ auf.“ Eine mystische Erfahrung, ganz ähnlich, hatte einst sein ganzes Leben umgedreht. In „Ma Conversion“, einer berühmt gewordenen Schrift, erzählte er von der Erleuchtung, die ihn, den damals 22-jährigen Atheisten, bei einer Weihnachtsvesper in Notre Dame erfasst habe. „In einem Nu wurde mein Herz ergriffen …, mein ganzes Sein wurde geradezu gewaltsam emporgerissen.“
Das Erweckungserlebnis prädestinierte Claudel zum Dichter der „Jeanne d’Arc“, er hatte – so seine Wahrnehmung – selbst erfahren, was es heißt, berufen zu sein. Berufen. Und gerufen. Stimmen waren es, die Johanna angetrieben hatten. In den Prozessverhören gab sie es zu Protokoll: „Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich eine Stimme von Gott, die kam, um mich zu leiten.“ Kaum ein Tag sei seitdem vergangen, an dem sie nicht Stimmen gehört habe: Stimmen von Heiligen, Stimmen von Engeln, Stimmen, die ihr zuriefen, sie müsse sich auf den Weg machen und kämpfen, als Gottgesandte gegen die Besatzer ihres Landes, die Eindringlinge aus England im Hundertjährigen Krieg. Keine Wahl sei ihr geblieben. „Da Gott es befahl, musste ich fort.“
Stimmen als Bestimmung. Stimmen, die von Himmelsmacht künden – Claudel gab ihnen Resonanz in einer ungemein starken, visionären Poesie, die ihrerseits schon Musik in sich trug. Honegger selbst beschrieb es so. Claudels Anteil an diesem Werk sei derart groß gewesen, erklärte der sagenhaft uneitle Komponist, „dass ich mich nicht als den wirklichen Autor, sondern bloß als bescheidenen Mitarbeiter betrachtete“. Als Beispiel für die suggestive Kraft der Dichtung führte Honegger den Beginn der ersten Szene an, die „Stimmen vom Himmel“. Nächtliche Klänge, irgendwo ein heulender Hund, der verwehte Anklang eines Volkslieds, Chormusik noch ohne Worte, lautmalerisch, Schweigen, schmerzliche Versunkenheit – dann erst deutlich die Stimmen: „Jeanne! Jeanne!“ All das hatte Claudel sich schon in seiner Fantasie ausgemalt. „Die ganze Atmosphäre ist geschaffen“, so Honegger, „der Komponist hat nur seinen Eingebungen zu folgen, um das Gegebene in Klang zu verwirklichen.“ Das freilich tat er kongenial. Die Stimmen, die in dieser Musik erweckt werden – so beschwörend, so betörend – führen das spirituelle Geschehen ins unmittelbar Sinnliche. Vom Höheren spricht sie und kommt doch den Hörenden ganz nah: als Kunst, die unter die Haut geht. Auch Alain Altinoglu erlebte sie so, unvergesslich für ihn, bei seinem ersten Dirigat dieses Meisterwerks, 2005 beim Radio France Festival in Montpellier.
Paris war eine Metropole des Aufbruchs, als Arthur Honegger, Sohn einer Schweizer Familie, sich 1913 hier niederließ und mitschrieb am Klang der Stadt. Kann man sagen, dass „Jeanne d’Arc au bûcher“ ein typisch französisches Stück sei? „O ja, ich denke schon“, meint Altinoglu. „Der französische Geist zeigt sich darin, dass die erhabenen, heiligen Momente neben dem Populären, ja Umgangssprachlichen stehen können. Die Verbindung aus diesen beiden Welten – dem Mystischen und Populären – ist der Schlüssel für das Stück. Und was die Orchestrierung angeht, finden wir ganz raffiniert eingesetzte, ungewöhnliche Klangfarben – Saxophone und die ,Ondes Martenot‘, die als elektronisches Musikinstrument gerade erst erfunden worden waren. Honegger liebte es bekanntlich, auch für den Film zu arbeiten. Er begriff sich, auch da ganz uneitel, als Handwerker – für seine Klangsprache hatte er fantastische Werkzeuge.“
Aus dem Geist des Films entsteht so auch wieder eine Art „Gesamtkunstwerk“, ganz unwagnerisch, ganz „ohne Sauerkraut“, wie die jungen Franzosen frech sagten, als sie ihre Kunst abseits von deutschem Pathos und spätromantischem Bombast zu formulieren suchten. Dass in „großer Oper“ alles gesungen werde müsse, egal ob es für den Gesang tauge oder nicht, störte auch Paul Claudel. Mit „Jeanne d’Arc au bûcher“ ging er, gemeinsam mit Honegger, einen anderen Weg. Die Hauptpartien sind Sprechrollen – Jeanne und Bruder Dominik, der ihr als guter Geist (und Geistlicher) zur Seite steht. Wundersam verknüpfen sich ihre Stimmen, geführt von Claudels klangvoller Poesie und Prosodie, mit der Musik. Als „dramatisches Oratorium“ kann „Jeanne d’Arc au bûcher“ szenisch aufgeführt werden, aber genauso gut darf man es der puristischen Magie des Konzertsaals überlassen. Die Uraufführung fand 1938 konzertant in Basel statt – mit der damals 53-jährigen Ida Rubinstein in der Hauptrolle. Legendären Ruhm erlangte 1953 eine szenische Aufführung im Teatro San Carlo Neapel. Roberto Rossellini führte Regie, die Hauptrolle spielte Ingrid Bergman.
Nun kommt Marion Cotillard als Jeanne nach Wien – ein Star des internationalen Films, 2008 mit dem Oscar als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Als Edith Piaf in „La Vie en Rose“ zeichnete sie berührend einen Charakter im Spannungsfeld von Extremen, wie sie auch für Jeanne prägend sind. „Eine Traumbesetzung! Marion Cotillard“, sagt Alain Altinoglu, „hat die perfekte Mischung aus Stärke und Zerbrechlichkeit für diese Rolle.“ Mit Éric Génovèse, der den Bruder Dominik spielt, ist der Dirigent seit längerem bekannt: „ein fantastischer Schauspieler“, so Altinoglu, „einer der größten der Comédie-Française – mit der perfekten Diktion für dieses Stück.“
Dass Honeggers „Jeanne d’Arc“ so selten auf den Konzertpodien zu erleben ist, hat schlicht mit dem Aufwand zu tun, den dieses Meisterwerk erfordert. Die Produktion, die nun im Musikverein präsentiert wird, scheut diesen Aufwand nicht – sie schont Prospekte nicht und nicht Maschinen und vereint Spitzenkräfte über Grenzen hinweg. Mit dem hr-Sinfonieorchester wird sie in Frankfurt erarbeitet, aus Wien reist der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde an, der dann bei allen Aufführungen dabei ist: in Frankfurt, Paris, Hamburg und Wien. Es wird ein Ereignis werden. Und ein Fest der Stimmen, der himmlischen wie der irdischen.
Montag, 16. Dezember 2024
hr-Sinfonieorchester Frankfurt
Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Wiener Chormädchen
Alain Altinoglu | Dirigent
Marion Cotillard | Sprecherin
Éric Génovèse (Mitglied der Comédie-Française) | Sprecher
Basile Alaïmalaïs | Sprecher
Thomas Gendronneau | Sprecher
Ilse Eerens | Sopran
Isabelle Druet | Mezzosopran
Svetlana Lifar | Alt
Julien Dran | Tenor
Nicolas Courjal | Bass
Arthur Honegger
Jeanne d’Arc au bûcher