„Wir gehören auch dazu!“: Neue Kooperation mit CAPE 10
Von Verena Randolf
22.07.2024
An der Decke der Eingangshalle des CAPE 10 hängt eine beeindruckende Installation von Eva Schlegel. Das imposante Kunstwerk begrüßt die Besucherinnen und Besucher. An der Wand – gut sichtbar für jeden, der hier ein- und ausgeht – steht: „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden, sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“ Ein Zitat von Joseph Beuys.
Mitten in Favoriten steht seit knapp zwei Jahren ein moderner Neubau. Draußen rauschen die Autos vorbei, drinnen herrscht gut geordnetes Gewusel. Kinderlachen und internationales Stimmengewirr. In der Eingangshalle hämmern Männer an einem Holzhäuschen, das ein gutes Versteck am gerade entstehenden Spielplatz abgeben wird, der vielfältigsten Bedürfnissen entsprechen soll; Frauen schieben Kinderwägen zu den Liften, die sie zu einem der wenigen medizinischen Erstversorgungszentren Österreichs für Kinder im ersten Stock bringen. Rund 27.000 Schüler:innen leben im 10. Bezirk, insgesamt gibt es 2,5 Kinderärzte auf Kassenleistung. Einer davon ordiniert hier.
In der Kinderordination werden täglich rund 500 Patient:innen behandelt, hier wird gearbeitet wie in einem kleinen Krankenhaus. CAPE 10 ist ein Projekt, das Prof. Dr. Siegfried Meryn ins Leben gerufen hat, der um den Zusammenhang von Armut und Krankheit weiß und um die damit einhergehende niedrigere Lebenserwartung.
CAPE 10 ist aber nicht nur ein Ort der Gesundheit, es ist auch ein Ort der Bildung und kulturellen Teilhabe: Im Untergeschoß des Neubaus hängt das Bild „HOPE“ von Erwin Wurm neben der Tür zu jenem Raum, in dem regelmäßig Kinderaugen leuchten und der ab September Schauplatz für ein besonderes Pilotprojekt sein wird. Genauer gesagt: Es wird einer von zwei Schauplätzen sein. Der zweite? Der Wiener Musikverein!
Der 10. Wiener Gemeindebezirk hat 218.000 Einwohner und ist damit größer als Linz. Gleichzeitig ist es der einkommensschwächste, kinderreichste und bildungsfernste Bezirk. So viele Menschen wie hier brechen nirgendwo sonst in Österreich die Schule ab, nirgendwo sonst gibt es einen höheren Migrationsanteil, nirgendwo sonst gibt es mehr Kinder, die zu Hause nicht Deutsch sprechen. Von den 42 Schulen im Bezirk gelten 40 offiziell als sogenannte Brennpunktschulen, das heißt: Die Pädagoginnen und Pädagogen haben nur selten die Ressourcen für außerschulische Veranstaltungen, weil sich die Eltern die Kosten für Ausflüge nicht leisten können.
„Nicht jedes Kind, das zu uns kommt, besitzt ein Buch. Nicht jedes Kind glaubt, dass es im Musikverein am richtigen Platz ist. Genau deshalb gibt es CAPE 10, und genau aus diesem Grund haben wir ‚The Power of Music‘ ins Leben gerufen.“ – Silvia Bruni, Geschäftsführerin CAPE 10
„Hier leben viele Kinder, die noch nie im Fußballstadion, im Prater oder im Theater waren“, erzählt Elfi Wittberger, Leiterin der Sozialprojekte im CAPE 10. Manche der Kinder waren noch nie im ersten Bezirk. Wenn die Herausforderungen im Alltag zu groß sind, bleibt kein Platz für kreative Freizeitgestaltung.
„Viele Kinder im Bezirk kommen aus bildungsfernen Familien, Eltern arbeiten häufig in schlecht bezahlten Jobs und haben nicht das Geld, um ihre Kinder zu fördern oder kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Dabei geht es um sehr viel mehr als kulturelle Teilhabe – alle Kinder wollen am Montag in der Schule mit Freude berichten können, was sie Neues erlebt haben, und sagen können: ‚Wir gehören dazu!‘“
Der Wunsch, genau dieses Gefühl zu stärken, war die Initialzündung für ein gemeinsames Projekt mit dem Musikverein, der die in der Menschenrechtserklärung verankerte kulturelle Teilhabe als eine seiner zentralen Aufgaben sieht. Gemeinsame Gespräche haben zu der Initiative „The Power of Music“ unter dem Ehrenschutz von Elīna Garanča geführt: 400 Kinder aus Brennpunktschulen werden ein ganzes Schuljahr lang mit Konzerten und Workshops begleitet. Für die nächsten fünf Jahre sind die Mittel dank der großzügigen Unterstützung von Wien Energie gesichert. Musiker:innen werden den Kindern im CAPE 10 und im Musikverein ihre Instrumente nahebringen, mit ihnen ins Gespräch kommen und interaktive Konzerte geben, die auf die Bedürfnisse der Schüler:innen zugeschnitten sind.
Bei der Vielzahl an Problemen, denen sich viele Favoritner Familien gegenübersehen – warum ist der Zugang zu Kunst wichtig? Worin liegt die Kraft der Musik, wie profitieren die Kinder davon? „Kunst und kreatives Tätigsein öffnen neue Horizonte“, meint Anna Doogue, die Leiterin für Musikvermittlung und Kulturelle Teilhabe im Musikverein, „sie ermöglichen neue Blickwinkel auf sich und die Welt und geben uns das Gefühl dazuzugehören.“
Bei „The Power of Music“ können Kinder gemeinsam musikalisch tätig werden, neue Berufsbilder kennenlernen, sie bekommen Zugang zu hochqualitativer Live-Musik und zu einem wichtigen Teil des kulturellen Erbes Österreichs, dem Musikverein. Die Kinder erfahren, dass sie dort willkommen sind, dass der Musikverein auch für sie da ist.
„Das ist für uns entscheidend“, sagt Anna Doogue, „Wir bieten seit vielen Jahren spezielle Programme für Schulen und Kindergärten an, um Kindern niederschwellig kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Wir wissen aus Studien, wie wichtig es ist, den Grundstein dafür in jungen Jahren zu legen. Diese Bemühungen wollten wir mit ‚The Power of Music‘ noch einmal verstärken.“ Das Besondere an dem Projekt aber liegt in seiner Nachhaltigkeit: „Wir sind dank CAPE 10 näher an den Schulen und an ihren Bedürfnissen“, erklärt Doogue, zudem sei die Dimension größer: „Über ein ganzes Schuljahr haben wir monatlich Berührungspunkte mit den Kindern. Es wird gemeinsam gesungen, musiziert, aber bei Konzerten auch einfach mal zugehört. Und wir stellen den Pädagog:innen eine Art Handwerkskoffer zur Verfügung, der helfen soll, im Schulalltag schnell mal ins Musizieren zu kommen.“
Der Musikverein arbeitet daran, nicht als Elfenbeinturm wahrgenommen zu werden. „Das Haus und sein traditionsreiches Erbe sind für alle da“, sagt Doogue, „für uns ist ,The Power of Music‘ eine gute Gelegenheit, Hürden abzubauen und langfristig gesellschaftliche Integration zu fördern.“ Das Live-Erlebnis sei „für viele unserer Erstbesucherinnen und -besucher sehr packend“, so Doogue. „Und wenn manche nach ihrem Besuch sagen: Okay, klassische Musik ist nicht meins, dann ist das auch in Ordnung. Ein paar sind immer dabei, die sich freuen und die man berührt. Wenn das so ist, haben wir schon gewonnen.“
Silvia Bruni, die Geschäftsführerin von CAPE 10, kennt die Herausforderungen der Familien in Favoriten. Ihr ist es wichtig, auf vielschichtige Weise Unterstützung anbieten zu können. „Wir haben hier 13-, 14-Jährige, die nicht Rad fahren, und viele Jugendliche, die nicht schwimmen können. Nicht jedes Kind, das zu uns kommt, besitzt ein Buch. Nicht jedes Kind glaubt, dass es im Musikverein am richtigen Platz ist. Genau deshalb gibt es CAPE 10, und genau aus diesem Grund haben wir ‚The Power of Music‘ ins Leben gerufen.“
Ab September startet „The Power of Music“. Schon jetzt sind alle Plätze ausgebucht. Das liegt daran, dass der Musikverein nicht bloß ein kostenloses Programm anbietet, sondern in Kooperation mit CAPE 10 den Schulen im 10. Bezirk direkt die Hand reicht: CAPE 10 ist der Vermittler, der die Alltagshürden aus dem Weg räumt und in Zusammenarbeit mit den Pädagog:innen den Weg in einen der imposantesten Konzertsäle der Welt so einfach wie möglich gestaltet.
Damit kulturelle Teilhabe nicht eine Frage der Postleitzahl ist und wir alle einer gerechteren Zukunft einen Schritt näher kommen können.