Wenn der Himmel sich öffnet: Lorenzo Viotti dirigiert Bruckner und Zemlinsky

© Dieter Nagl
Er ist erst 35 Jahre alt – und schon einer der ganz Großen in der Welt der Musik: Lorenzo Viotti. Wo er dirigiert, jubelt das Publikum, Musikerinnen und Musiker schätzen ihn als aufmerksamen, begeisterten und begeisternden Kollegen. Und als einen, der Hingabe und Handwerk zu einen versteht. Kein Wunder, kennt er die Musikwelt doch aus (fast) allen Blickwinkeln.

Von Oliver Láng

05.06.2025

Da sitzt ein junger Mann am Schlagzeug eines höchst renommierten Opernorchesters, ringsum brandet Giacomo Puccinis „La Bohème“ auf. Gebannt folgt er dem Geschehen, der Musik, Mimìs Gesang, ist berührt, mitgerissen, ergriffen. So groß ist die Spannung, dass er prompt seinen Einsatz, sein „Ping“ am Triangel, verpasst. Eine Pausenanekdote? Ein typischer Angsttraum eines Künstlers? Keines von beiden. Sondern: Es ist tatsächlich passiert, und zwar in der Wiener Staatsoper. Der junge Mann ist Lorenzo Viotti, und die kleine Episode erzählt nach ihrem spontanen Lacherfolg mehr, als man zunächst denkt. Nämlich zweierlei. Erstens: Der Protagonist ist ein Berufener, die Musik kann ihn so bannen, so überwältigen, dass er gleichsam aus der Gegenwart und ihren unmittelbaren Aufgaben fällt. Ein Glücksfall! Denn wer Kunst so liebt und lebt, der wird sie auch so weitergeben können: unmittelbar, an die Existenz rührend, in immer weiteren Kreisen sich ausbreitend und vor allem wahrhaftig. Zweitens: Der Dirigierstudent Viotti wollte nicht nur eine Sichtlinie, nämlich jene vom Pult aus, erfahren, sondern seinen Beruf von der Pike auf und in allen Facetten erlernen. Also arbeitete er sich quer durch den Musikbetrieb, probierte verschiedenste Blickwinkel aus, beschäftigte sich mit unterschiedlichen Aspekten des Betriebs, um das zu lernen, was Handwerk ausmacht. Er substituierte, wie aus der obigen Geschichte zu erfahren ist, im Orchester. Er jobbte im Musikarchiv der Wiener Staatsoper und studierte nebenbei die Partituren großer Vorgänger. Lernte Dirigenten kennen. Kollegen. Den sozialen und künstlerischen Organismus eines großen Klangkörpers. Spielte Klavier. Bratsche. Sang im Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde. Und er erlebte am Stehplatz zahllose Abende, saugte gierig auf, was die Musikstadt Wien zu bieten hat. Ganz nebenbei absolvierte er am Wiener Konservatorium auch sein Dirigierstudium, wenn auch seine echte Schule, wie er später erzählen wird, die Abende im Musikverein, in der Staatsoper und an vergleichbaren Orten waren.
Das alles klingt fast märchenhaft, und wie im Märchen ging es weiter. Mit 25 gewann er überragend den Young Conductors Award der Salzburger Festspiele und „stand in den Startlöchern dessen, was nach unser aller Meinung eine bedeutende Karriere wird“, wie der Juryvorsitzende Dennis Russell Davies die Entscheidung der Kommission begründete. Auf die Wettbewerbssituation angesprochen, beschreibt Viotti später in einem Interview, dass er bei der Orchesterprobe, die es zu absolvieren galt, rein gar keinen Druck verspürt habe. Es ging ihm einfach um den Moment, die gemeinsame Arbeit. Egal, was rundum passiert. Ja, da ist es also wieder, dieses vollkommene Aufgehen in der Musik, das Eintauchen und Vergessen. „Probenarbeit ist für mich stets enorm spannend, auf eine positive Art“, meint er. „Ich liebe es, wenn ein Stück sich allmählich vor einem entfaltet, wenn ich in den Orchesterklang eintrete, wir an Klang und Interpretation feilen. Manchmal“, so Viotti weiter, „habe ich mehr Vergnügen an den Proben als am Konzert.“ Freilich geht es immer auch um die Umgebungsvariablen. Als Einspringer habe er durchaus auch schon ordentliche Anspannung gespürt, wenn man aber gut vorbereitet sei, ausreichend geprobt habe und mit Respekt an das Werk und die Kollegen herantrete: dann sei das Dirigieren pures Glück.

„Zemlinskys ‚Frülhingsbegräbnis‘ ist eine poetische Überraschung: ein faszinierendes Werk, das durch seine Reife, die Vielfalt der Klangfarben und eine ausdrucksvolle Sprache in den Bann zieht.“

Lorenzo Viotti

Halten wir hier kurz inne. Respekt den anderen Musikerinnen und Musikern gegenüber – das liegt natürlich auf der Hand. Aber tut es das wirklich? Gab es da nicht Pultkollegen, die den zweifelhaften Ruf des sehr reschen Zupackens hatten? Deren bloßer Blick so manche Musikerin und so manchen Musiker erstarren ließ? Deren Wutanfälle man kannte? Und die sich sogar mit akademischem Titel ansprechen ließen? „Ich glaube nicht an eine Leitung durch Angst, dieses Agieren der bedrohlich großen Götter, die allmächtig schienen – das ist vorbei. Und man hört es am Klang, wenn jemand ein Orchester mit Negativität und Angst führt. Es fehlt dann in der Musik der Ton der Freiheit. Es geht ja auch anders!“ Und so waren Viottis Idole, an denen er wachsen durfte, etwa Georges Prêtre, Mariss Jansons oder Bernard Haitink. „Ein Glück, sie erlebt zu haben!“ Und die Freiheit, die ihm vorschwebt, umfasst nicht nur die gute Zusammenarbeit, sondern auch das Lösen von Ängsten und Zwängen. „Vor einer Aufführung muss es immer heißen: ,Kommt, wir haben gemeinsam gearbeitet – jetzt spielen wir und riskieren alles!‘ Das braucht natürlich Vertrauen, großes Vertrauen zueinander.“
Bedeutet das, dass gutes Dirigieren eine Freundschaft erfordert? Oder anders gefragt: Was ist ein Dirigent heute? Ein Partner? Oder sogar mehr? Hier hält Viotti einen Moment inne. „Eine sehr persönliche Frage“, meint er. „Ich möchte die Musikerinnen und Musiker zum Spielen einladen, zum gemeinsamen Spielen. Vor allem aber will ich sie dazu einladen, an eine Vision zu glauben. Mir geht es also nicht um das reine Organisieren, ich bin kein Manager. Ich bin ein Dirigent und will einen Gedanken vermitteln. Ob ich nun mit diesem ganz richtig liege oder nicht, ist zunächst einmal gar nicht so wichtig. Zentral ist, dass ich eine Idee habe, für die ich begeistern kann. Aber Freundschaft? Ich weiß nicht. Das kann zu persönlich sein. Mir ist das Wort Partner lieber, das hat eine professionelle Ebene, die mir wichtig scheint.“ Intensive Verbundenheit, wie etwa zu den Wiener Symphonikern, schließt das freilich nicht aus. Denn gerade zu diesem Klangkörper pflegt er eine besonders enge Beziehung und freut sich stets auf ein neues Zusammentreffen. Wie er sich auch auf den Goldenen Saal freut: „Mein liebster Konzertsaal auf der ganzen Welt. Und das in einer Stadt, die ich sehr mag. Wie schön, dass ich mit diesem Orchester, an diesem Ort meine aktuelle Konzertsaison beende!“

© Jan Willem Kaldenbach

Das Programm des Abends umfasst einerseits Alexander Zemlinskys wenig bekanntes „Frühlingsbegräbnis“, ein Werk für Orchester, Chor und Gesangssolisten, andererseits Anton Bruckners f-Moll-Messe. Ersteres ist für Viotti eine „poetische Überraschung: ein faszinierendes Werk, das durch seine Reife, die Vielfalt der Klangfarben und eine ausdrucksvolle Sprache in den Bann zieht“. Hat er es vor Kurzem bereits in Rom geleitet, betritt er mit der Messe persönliches Neuland. Nie zuvor habe er eine Bruckner-Messe dirigiert, erzählt er, doch sei er an den geistlichen Werken ab der Wiener Klassik geschult. „Ich kann mich also in eine Kontinuität stellen, die von Haydn ausgehend emporwächst und bis ins 19. Jahrhundert reicht.“ Und er schwärmt schon jetzt von der Bruckner-Messe: „Das Benedictus – was für eine intime und berückend schöne Musik, wie fein und innig, bewegend, wie tief in ihrem Ausdruck!“ Doch braucht es als Dirigent, eingedenk des tiefgläubigen Bruckner, der die Messe als persönliches Bekenntniswerk ansah, eine besondere Religiosität oder Spiritualität? Oder ist große Musik einfach große Musik, ungeachtet der Umstände? „Ich bin nicht religiös, aber es stimmt: Es gibt bei Bruckner eine Beziehung zu einer Spiritualität, die über die reine Aufführung hinausweist. Wenn man etwa die letzten Takte der Neunten Symphonie erlebt, kann man nicht einfach lakonisch feststellen: Es gibt nichts, was über den Menschen hinausreicht. So erinnere ich mich an den Moment, als ich das Finale der Neunten zum ersten Mal gehört habe. Ich dachte: Und jetzt, jetzt öffnet sich der Himmel über mir!“
Und da haben wir es wieder: das Absolute, die Hingabe, die Intensität, die Forderung an die Kunst, mehr zu sein als nur eine Sammlung schöner Klänge. Also nicht nur Ohren auf, sondern auch Augen auf am 17. und 18. Juni, denn vielleicht öffnet sich die goldene Saaldecke auch bei Bruckners Messe. Vor allem aber: Herzen auf!

Dienstag, 17. Juni 2025
Mittwoch, 18. Juni 2025

Wiener Symphoniker
Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Lorenzo Viotti | Dirigent
Christina Gansch | Sopran
Rachael Wilson | Mezzosopran
Andrew Staples | Tenor
Derek Welton | Bassbariton

Alexander Zemlinsky
Frühlingsbegräbnis
Anton Bruckner
Messe f-Moll

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