Von Ravenna in die Welt: Riccardo Muti und die Jugend
Von Manuel Brug
10.04.2024
Der Name bei Riccardo Mutis Orchestra Giovanile Luigi Cherubini ist Programm: Man versteht sich strickt als ein Jugendorchester (Höchstalter 30 Jahre) mit gegenwärtig 52 Mitgliedern, die alle nur drei Jahre bleiben dürfen. Dynamik und ständige Erneuerung sind ein besonderes Merkmal dieser Truppe auf Zeit. Man speist sich vorwiegend aus Absolvent:innen italienischer Hochschulen. Und der Komponist Luigi Cherubini steht für eine besondere Vorliebe Mutis, aber durchaus auch für unbekannteres italienisches Repertoire; das der inzwischen 82-Jährige vielleicht letzte echte Maestro alter italienischer, handwerklich gereifter Schule immer wieder gern auf die Pulte legen lässt. Cherubini, der steht freilich auch für einen europäischen Geist, so wie er schon um 1800 über die Grenzen wehte und den Klassizismus auf dem ganzen Kontinent schnell verbreitete.
Regional, aber weltoffen, sich immer wieder neu erfindend, aber auf die Erfahrung und den glänzenden Namen seines Gründers bauen könnend, so feiert diese Klangvereinigung im steten Wechsel, nach wie vor zusammengeschmiedet durch Mutis immense Interpretationsvergangenheit, nun zwei Jahrzehnte Erfolgsgeschichte – unter anderem mit einem raren Gastspiel in Wien. Und auch dabei gibt es klug gedachte Bezüge: Mit Daniel Ottensamer als Solist in Mozarts Klarinettenkonzert ist ein wiederum lokaler Musikstar dabei, der sonst in Riccardo Mutis Lieblingsorchester spielt, den Wiener Philharmonikern, mit denen er seit mehr als fünfzig Jahren konzertiert. Auch Schuberts Ouvertüre „im italienischen Stile“ verweist nach Süden. Und mit Alfredo Catalanis „Contemplazione“ sowie Ferrucio Busonis Orchestersuite zu seinem Operneinakter „Turandot“ sind heimatliche Raritäten im Gepäck; wenn auch diesmal kein Cherubini.
Regional, aber weltoffen, sich immer wieder neu erfindend, aber auf die Erfahrung und den glänzenden Namen seines Gründers bauen könnend, so feiert diese Klangvereinigung nun zwei Jahrzehnte Erfolgsgeschichte – unter anderem mit einem raren Konzert in Wien.
Über den sagt Muti übrigens: „Beethoven, von dem ich ja die Ehre habe, die Neunte Symphonie anlässlich ihres 200. Geburtstags mit meinen Philharmonikern aufführen zu dürfen, nannte Cherubini den Größten – wobei man nicht weiß, wie ernst das Beethoven meinte. Er verehrte ihn in jedem Fall als einen Meister der musikalischen Architektur.“ Denn als Melodiker ist Cherubini weniger berühmt. „Er war Florentiner wie Michelangelo, und diese Menschen sind eher taff, nicht sentimental“, ergänzt Muti. „Er ist ein schwieriger Komponist. Wie viel aufkeimende Romantik steckt etwa in diesem Neoklassiker? Man muss ihn mit Noblesse, aristokratisch, ohne Effekte spielen. Und genau das ist schon einmal eine erste Lektion, die ich meinen Orchester-Bambini vermitteln kann. Wenn sie sich die Musik ihres Namenspatrons erschließen, lernen sie bereits, wie viel doch hinter den Noten zu entdecken ist, eben nicht von ihnen vermittelt wird.“
Riccardo Muti interessierte sich für Cherubini, seit er 1968 Musikdirektor des Maggio Musicale in Florenz wurde: „Seither glaube ich an die Großartigkeit von Cherubini. Ich finde es beschämend, dass man zu wenig für ihn tut. Und diese Situation betrifft nicht nur ihn. Im Konservatorium meiner Geburtsstadt Neapel liegen 350.000 Handschriften neapolitanischer Komponisten wie Piccini, Paisiello, Pergolesi et cetera. Warum spielt die keiner?“
Riccardo Muti tut es – bisweilen. Und auch dabei leistete ihm das Orchestra Giovanile Luigi Cherubini verlässliche Dienste. Die späte Uraufführung von Cimarosas „Il ritorno di Don Calandrino“ bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2007 war der erste Schritt eines fünfjährigen Projekts, das Erbe der neapolitanischen Schule des 18. Jahrhunderts neu zu entdecken und zu beleben – heute hat das einige Nachfolger, von der Mailänder Scala bis zum Festival Bayreuth Baroque, gefunden.
Gründer Muti ist bis heute bemüht, die Mission des Cherubini-Orchesters immer noch auszuweiten. Und wie schon dessen Name ganz natürlich eine starke italienische Identität mit einer natürlichen Neigung zu einer europäischen Vision von Musik und Kultur verbindet, so geschickt wurde auch seine Berechtigung im Konzertleben skizziert – in Italien wie international. Von Anfang an verstand man es als ein privilegiertes Bindeglied zwischen den Konservatorien und der Berufswelt, mit der einmaligen Chance, junge Musiker:innen regelmäßig am wachsenden Erfahrungsschatz eines der bedeutendsten Dirigenten teilhaben zu lassen. Der wiederum hat somit ein Spielzeug, das ihm zur Verfügung steht, wenn er eines seines Spezialprojekte plant.
Trotzdem konnten die Musiker:innen auch neben Muti mit bedeutenden Künstler:innen wie Claudio Abbado, Rudolf Barshai, Dennis Russell Davies, Herbie Hancock, Leonidas Kavakos, Lang Lang, Ute Lemper, Kurt Masur, Anne-Sophie Mutter, Kent Nagano, Krzysztof Penderecki, Vadim Repin, Yuri Temirkanov und Pinchas Zukerman zusammenarbeiten.
Und um diese Win-win-Situation noch auszuweiten: Das Orchester, dessen neue Mitglieder von einem Komitee aus Spitzenmusiker:innen renommierter europäischer Orchester unter der Leitung von Muti selbst durch ein Probespiel ausgewählt werden, ist zudem so etwas wie das Kommunalorchester von Piacenza in der Emilia. Hier erfüllt man also einen kulturpolitischen Auftrag. Das zweite wichtige Spielbein ist das von Mutis Frau Cristina Mazzavillani-Muti Anfang der 1990er Jahre gegründete Ravenna Festival. Die studierte Sängerin, längst auch Regisseurin und Managerin, war nämlich nie nur Anhängsel eines Dirigentenmacho. Trotz dreier Kinder (Tochter Chiara ist ebenfalls als Regisseurin erfolgreich) hat sie sich eine eigene Existenz aufgebaut; als brav dienende Gattin an seiner Seite darf man sich das kleine, aber durch seine bunte Kleidung wie die bisweilen blauen Haare auffallende Energiebündel schon gar nicht vorstellen.
Auch Cristina Mutis Kreativität kommt dem Orchester zu Gute. Den längst in ihrer Geburtsstadt Ravenna residierenden Mann schickt sie etwa im Rahmen des Festivals auf die musik- wie völkerverbindenden „Roads of Friendship“, um durch besondere Konzerte an unfriedlichen, weil umkämpften Orten, auf die jeweilige Situation aufmerksam zu machen. Nairobi, Redipuglia, Tokio, Teheran, Kiew, Athen, Paestum oder Eriwan wurden so zu Spielstätten. Und im Herbst ist man in Ravennas traditionell vierstöckigem, goldblauem Logentheater, das nach dem in Sichtweite begrabenen Dante Alighieri benannt ist, jeweils bei der Opern-Trilogie der feste Partner. Dabei hat man seit 2012 unter diversen Dirigenten viel Verdi, aber auch Puccini und Verismo gespielt und sich weitere Musiktheater-Praxis erarbeitet. Von 2015 bis 2017 war das Cherubini Orchester zudem beim Festival von Spoleto unter James Conlon mit Mozarts Da-Ponte-Trilogie zu erleben.
Das weltweit anerkannte Orchester ist fit in allen Stilen vom Barock bis zur Musik des 21. Jahrhunderts. Und eine neue Aufgabe hat es zudem: Es fungiert als Klangkörper für die seit 2015 von Mailand bis Tokio abgehaltenen Muti-Akademien, bei denen er in jeweils zehn Tagen eine Oper mit jungen Künstler:innen erarbeitet.
Und wenn sich der Maestro, wie etwa gerade wieder in Mailand und Ravenna mit Bellinis „Norma“ und Verdis „Nabucco“ geschehen, über das vorgebliche Nichtwissen seiner Schützlinge symbolisch die Haare rauft, dann ist das nur einmal mehr ein Zeichen der Anerkennung. Denn seit Riccardo Muti aller Verpflichtungen frei ist, neben seinen Freizeitaufenthalten auf dem eigenen Grund bei Castel del Monte in Apulien oder auf der Insel Pantelleria nur noch zu ganz wenigen Profi-Klangkörpern regelmäßigen Kontakt pflegt, ist ihm das Orchestra Giovanile Luigi Cherubini fast noch teurer geworden. Und lieb war es ihm sowieso.
Mittwoch, 12. Juni 2024
Orchestra Giovanile Luigi Cherubini
Riccardo Muti | Dirigent
Daniel Ottensamer | Klarinette