Vierteltöne und das große Ganze: Mirga Gražinytė-Tyla

© Gert Mothes
Fokus-Künstlerin Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert bis zum Saisonende im Großen Musikvereinssaal drei Orchester mit vier Programmen. Mit besonderer Spannung wird ihr Konzertdebüt am Pult der Wiener Philharmoniker erwartet. Markus Siber hat die temperamentvolle Dirigentin zu einem Gespräch in Salzburg getroffen, wo sie mit ihrer Familie lebt.

Von Markus Siber

25.04.2025

Eine simple Frage zu Beginn: Sind Sie ein Morgen- oder ein Abendmensch?
Tatsächlich kann das sehr variieren. Von der Natur her bin ich wohl eher ein Morgenmensch. Seit ich eine eigene Familie habe, hat sich das sicherlich verstärkt. Aber der Beruf zieht mich so schön in die Nacht …

Ihr Einstieg in die Welt der Musik hat mit dem Singen begonnen. Wann haben Sie das letzte Mal gesungen?
Ich singe täglich, aber mittlerweile hat das Singen für mich mehr eine private, eine familiäre Komponente. Dennoch würde es mir guttun, regelmäßig im Chor zu singen. Bleibt die Frage, ob sich eine Dirigentin überhaupt in einen Chor einfügen kann (lacht). Vor ein paar Jahren habe ich übrigens eine Zeit lang recht intensiv arabische Lieder gesungen, das würde ich gerne wieder aufgreifen.

Wie kommt es zur arabischen Musik?
Mein Partner und ich haben einen Freund, den arabischen Komponisten und Ud-Spieler Hossam Mahmoud, der abwechselnd in Österreich und Ägypten lebt. Er hat mir die wunderbare Welt der Vierteltöne eröffnet.

Hat das Ihren Blick auf die westliche Musik verändert?
Alles, was ich erlebe oder erfahre, beeinflusst meine Herangehensweise an eine Partitur. Deshalb ist jede Interpretation anders. Sie kann nur gelingen, wenn ich sie aus meiner aktuellen Perspektive heraus und mit meinem jetzigen Verständnis gestalte. Die arabische Musik mit ihren Vierteltönen hat mir gezeigt, dass es jenseits unseres großartigen Systems mit zwölf Tönen noch viel mehr gibt. Perfekte Intonation im Sinne der wohltemperierten Stimmung sorgt für einen sauberen Klang, nimmt ihm aber auch ein Stück weit seinen Charakter.

Wichtiger Bestandteil Ihres Lebens ist Ihre Familie mit drei kleinen Kindern, für die Sie auch Engagements ausschlagen. Wäre Ihre ohnehin eindrucksvolle Karriere ohne Familie komplett anders verlaufen?
Wahrscheinlich hätte ich mehr aufs Gas gedrückt. Vielleicht wäre ich daran aber auch zerbrochen. Mein Leben ist stark von der Gründung und dem Heranwachsen unserer Familie geprägt. Das stellt mich Tag für Tag immer wieder vor Fragen der Balance, des Innehaltens und der Erdung und führt letztlich zu bestimmten Entscheidungen. Vielleicht ist die Familie ja auch ein gewisser Schutz für mich …

Wenn man an Ihr bevorstehendes Konzertdebüt bei den Wiener Philharmonikern denkt, haben Sie ohnehin alles geschafft …
Was heißt das schon, alles schaffen? Schauen Sie, wir sind noch immer nicht bei den Klimazielen, die wir uns wünschen, und die kriegerischen Auseinandersetzungen werden auch nicht gerade weniger. Alles haben wir noch nicht geschafft!

Ist die Familie auch der Grund dafür, dass Sie im Moment nicht Chefdirigentin eines Orchesters sind?
Ja, das geht sich im Moment nicht aus. Als Chefdirigentin wollte ich mich immer, zuletzt in Birmingham, mit meinem ganzen Können, Wissen und meinen Zukunftsvisionen der Organisation widmen. Ich wollte mich mit ihr identifizieren, gemeinsam mit ihr in die Zukunft träumen und aus diesen Visionen heraus konkrete Ziele erreichen. In gewisser Weise fühlt sich das ähnlich an wie eine Familie. Man trägt langfristig Verantwortung – mit all den Freuden und Herausforderungen, mit allen Anstrengungen und Belohnungen.

© Amar Mehmedinovic

Sie dirigieren als erste Frau ein Abonnementkonzert der Wiener Philharmoniker – und bringen auch einen weiblichen Aspekt ins Programm ein, indem Sie eine zeitgenössische Komponistin aus Litauen vorstellen. Mussten Sie da viel Überzeugungsarbeit leisten?
Keineswegs. Programme entstehen ja im Team. Als das Tschaikowskij-Klavierkonzert mit Yuja Wang und die drei Sibelius-Legenden feststanden, blieb noch Platz für ein kürzeres Werk. Und da habe ich meine Chance gewittert, mit dem klein besetzten Stück von Raminta Šerkšnytė, das aber gleichzeitig große Dinge ausdrückt, noch einen Bezug zu meiner Heimat herzustellen. Es ist wirklich ein großartiges Stück – eine musikalische Reise durch die Jahreszeiten, geprägt von Licht und Dunkelheit. Am Ende mündet alles in einen Choral, bevor das Werk auf einem einzigen Ton verhallt – ein Symbol für das unendliche Licht.

Sie werden im Rahmen der vier Fokus-Konzerte mit verschiedenen Solistinnen, alles Frauen, zusammenarbeiten: Julia Hagen, Yuja Wang, Vilde Frang und Patricia Kopatchinskaja. Gibt man als Dirigentin die Führung ab, wenn so prominente Solistinnen im Boot sind?
Das würde ich nicht so sehen. Interpretationen entstehen immer im Dialog, in den jeder mit Vehemenz seine Überzeugungen einbringen soll. Ich bin eine leidenschaftliche Verehrerin aufführungspraktischer Fragen. Dabei gibt es selten eine eindeutig richtige Antwort. Vielmehr geht es um den Prozess der Vertiefung, darum, zu verstehen, warum zum Beispiel Mozart oder Haydn auf eine bestimmte Weise komponiert haben. Ich freue mich wahnsinnig auf Julia, Yuja, Vilde und Patricia. Ich habe mit allen vier einen gemeinsamen Weg hinter mir, der von besonderen Annäherungen geprägt war – nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich.

Sie haben in der letzten Saison mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France Schumann im Musikverein gespielt. Sie machen im April wieder Schumann – diesmal mit den Münchner Philharmonikern. Schumann hat man ja lange vorgeworfen, dass er nicht orchestrieren könne. Wie sehen Sie das?
Schumann hatte eine fantastische, ganz eigene Art zu orchestrieren – manchmal auch mit einem Hauch von Verrücktheit. Die Ungleichgewichte in der Balance, die dabei entstehen können, sind durchaus vorhanden. Genau hier wird die aufführungspraktische Auseinandersetzung besonders spannend. Im 20. Jahrhundert haben fast alle Streichinstrumente eine Art „Operation“ erfahren – sie wurden klanglich potenter, stärker und glänzender. Das hat jedoch dazu geführt, dass ältere Partituren teilweise stark aus ihrer ursprünglichen Balance geraten sind. Wenn man Schumanns Werke aufführt, ohne die Streicherbesetzung stark zu reduzieren oder die Bläser zu verdoppeln, kann es schwierig sein, die richtige klangliche Balance zu finden.

Was ist der beste Ratschlag, den Sie je bekommen haben?
Ach, da gab es Gott sei Dank viele, in ganz unterschiedlichen Bereichen des Lebens. Seit längerem begleitet mich ein Gedanke von Goethe, der geschrieben hat, dass man nur dort wirklich gewesen ist, wo man zu Fuß war. Ich versuche so viel wie möglich zu Fuß zu gehen, das genieße ich sehr, weil es eine ganz andere Sicht auf die Welt zulässt.

Wer oder was hat Sie zuletzt überrascht?
Ich bin ein großer Fan der deutsch-vietnamesischen Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim, die mich immer wieder mit wissenschaftlichen Fakten überrascht, mit denen ich nicht gerechnet habe. Es gibt eine sagenhafte Menge an fantastischen Videos von ihr im Netz, wo sie auf sehr unterhaltsame Weise den Dingen faktenbasiert auf den Grund geht. Besonders begeistert hat mich ein Video über das menschliche Gehirn. Offenbar gibt es tatsächlich ein typisch weibliches und ein typisch männliches Gehirn. Die allerwenigsten Menschen haben aber zum Glück so ein typisches Gehirn. In der Regel sind es Mischformen.

Donnerstag, 3. April 2025

Münchner Philharmoniker
Mirga Gražinytė-Tyla | Dirigentin
Vilde Frang | Violine

Béla Bartók
Divertimento für Streichorchester
Robert Schumann
Violinkonzert d-Moll, WoO 1
Symphonie Nr. 1 B-Dur, op. 38, „Frühlingssymphonie“

Freitag, 2. Mai 2025

Wiener Philharmoniker
Mirga Gražinytė-Tyla | Dirigentin
Yuja Wang | Klavier

Raminta Šerkšnytė
Midsummer Song
Peter Iljitsch Tschaikowskij
Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll, op. 23
Jean Sibelius
Lemminkäinen. Legenden, op. 22/1, 2 und 4

Mittwoch, 28. Mai 2025

Orchestre Philharmonique de Radio France
Mirga Gražinytė-Tyla | Dirigentin
Patricia Kopatchinskaja | Violine

Lili Boulanger
D’un matin de printemps
Alban Berg
Violinkonzert
Joseph Haydn
Symphonie C-Dur, Hob. I:7, „Le Midi“
Richard Strauss
Tod und Verklärung, op. 24

Donnerstag, 29. Mai 2025

Orchestre Philharmonique de Radio France
Wiener Singverein
Mirga Gražinytė-Tyla | Dirigentin
Mitglied des Maîtrise de Radio France | Sopran
Gareth Brynmor John | Bariton
Julia Hagen | Violoncello

Ralph Vaughan Williams
Fantasie über ein Thema von Tallis
Ernest Bloch
Schelomo. Hebräische Rhapsodie für Violoncello und Orchester
Maurice Duruflé
Notre Père, op. 14
Gabriel Fauré
Requiem, op. 48

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