Überdrehte Walzer und falsche Fährten: Hannah Eisendle
Von Helmut Christian Mayer
29.04.2025
„Überdreht“: So lautet der Arbeitstitel ihrer neuen Komposition, die Ende April im Brahms-Saal das Licht der Welt erblicken wird. „Bei diesem Auftragswerk des Wiener Concert-Vereins habe ich auf den diesjährigen 200. Geburtstag von Johann Strauß Bezug genommen und einen ziemlich überdrehten Walzer einfließen lassen“, beschreibt Hannah Eisendle das Stück. „Zudem finden sich darin auch Elemente des Witzes und der Wut. Es geht mir dabei auch darum, die Zuhörerinnen und Zuhörer zu verblüffen und auf die falsche Fährte zu locken. Bei dieser meiner neuen Tonschöpfung dominieren Rhythmus und Klang vor Melodie.“ Ein anderes musikalisches Werk, das humorvoll mit der Erwartungshaltung des Publikums spielt, stammt in diesem Konzert, in dem die 31-Jährige selbst den Wiener Concert-Verein dirigieren wird, von Joseph Haydn: Dessen Symphonie in C-Dur, Hob. I:60, „Il distratto“, trägt die Ablenkung schon im Titel. Komplettiert wird das Programm durch „Sound and Fury“ der äußerst erfolgreichen Britin Anna Clyne und die sechs Humoresken von Jean Sibelius, in denen der junge österreichische Geiger Paul Kropfitsch den Solopart übernehmen wird.
Schon als sehr kleines Kind besuchte die in Wien geborene Hannah Eisendle erstmals die Oper – und zwar gleich eine Aufführung der „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss. „Meine Eltern, die immer viel in die Oper gegangen sind, haben mich oft mitgenommen und damit geprägt. Lange Zeit gab es keine Autofahrt ohne Mozarts ‚Zauberflöte‘; mit drei Jahren habe ich mich im Fasching als Papagena verkleidet, was die anderen Kinder leider nicht erkannten. Auch ,Turandot‘ mochte ich sehr.“ Zu Hause in Wien stand ein Klavier, auf dem ihre Mutter, eine Soziologieprofessorin, gern und häufig gespielt hat. Deshalb lag Hannah Eisendles Fokus zunächst darauf, Pianistin zu werden. Der Vater spielte zwar kein Instrument, arbeitete aber als Kulturwissenschaftler, kurz: Ihre Kindheit war durchgängig von Musik erfüllt. Mit sieben Jahren erhielt sie ersten Klavierunterricht, in dem sie auch schon bald kreativ improvisieren durfte. Zudem lernte sie Geige.
In weiterer Folge studierte Hannah Eisendle Klavier an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg sowie Komposition und Dirigieren an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Nur ausführende Musikerin zu sein, war ihr zu wenig, es packte sie das Kompositionsfieber. Mehr als vierzig Tonschöpfungen verschiedenster Genres sind bisher entstanden: Solostücke für einzelne Instrumente oder Stimme etwa, Werke für Bigband, für Elektronik, aber auch Film- und Kammermusik bis hin zu großen Orchesterwerken.

Ihr erfolgreichstes Stück ist zweifellos „heliosis“, ein Auftragswerk des ORF RSO Wien, 2022 unter Chefdirigentin Marin Alsop uraufgeführt und mittlerweile dreißigmal weltweit gespielt. „Die Aufführung bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall in London 2022 war sicherlich mein Durchbruch als Komponistin und für mich auch wegen der unvergleichlichen Atmosphäre, die das dortige Publikum erzeugt, ein absolutes Highlight.“ Heliosis ist der medizinische Begriff für Sonnenstich. Es geht in diesem Werk um die Hitze, die innere Hitze, aber auch um eine heiße Landschaft. Es wird durch den Rhythmus angetrieben. „Wie überhaupt der Rhythmus für mich ein ganz wichtiges kompositorisches Element ist. Bei allen meinen Kompositionen werde ich immer von außermusikalischen Impressionen, von Bildern und anderen Kunstformen inspiriert. Ich komponiere meist ohne Instrument und versuche, meine Eindrücke in einer Art Übersetzungsprozess in Klanggebilde zu transformieren.“
Beim Festival Carinthischer Sommer wurde im Juli 2024 das Stück „Azinheira“ (portugiesisch für Steineiche) mit dem ORF RSO Wien unter Joana Carneiro uraufgeführt und dann auf einer Japan-Tournee des Orchesters gleich elf Mal unter Marin Alsop gespielt. Hannah Eisendles letzte Uraufführung war 2024 die Jugendoper „Elektrische Fische“, die im Februar 2025 im NEST der Wiener Staatsoper wiederaufgenommen wurde. Ihren Orchesterwerken widmen sich unter anderem auch Giedrė Šlekytė, Manfred Honeck und Cristian Măcelaru mit namhaften Orchestern.
Genauso wichtig wie das Komponieren ist Hannah Eisendle das Dirigieren. Sie war mehrere Jahre als Dirigentin und musikalische Assistentin der Jugendoper am Theater an der Wien tätig, leitete die dortige Kinderoper und assistierte bei Produktionen der Neuen Oper Wien. Weiters war sie Dirigentin der „oper rundum“ und assistierte bei Janáčeks „Jenůfa“ in Toulouse. Neben der musikalischen Leitung von Tschaikowskijs „Eugen Onegin“ im Schönbrunner Schlosstheater dirigierte sie zeitgenössische Opern von Patricia Martínez, Caitlin Smith und Manuel Zwerger. Denn auch als Dirigentin gilt ihr besonderes Interesse der Aufführung von Werken des 20. und 21. Jahrhunderts. 2023 dirigierte sie im Großen Musikvereinssaal die österreichische Erstaufführung von Benjamin Brittens „A Ballad of Heroes“ beim Musikfest des Wiener Musikgymnasiums und gab hier kurz darauf im Diplomprüfungskonzert der mdw-Dirigierklasse am Pult des ORF RSO Wien auch ihr Debüt bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Im selben Jahr leitete sie die Musikvermittlungskonzerte des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich, mit dem sie bereits 2020 ihr Orchesterwerk „crushed ice II“ beim Grafenegg Festival aus der Taufe gehoben hatte.
Ein besonderes Anliegen ist der vielseitigen Künstlerin die Weitervermittlung ihrer Erfahrungen an Kompositionsstudierende als Universitätsassistentin an der Gustav Mahler Privatuniversität für Musik in Klagenfurt. Seit 2023 hat Hannah Eisendle ein fixes Engagement als Kapellmeisterin und Korrepetitorin am Stadttheater Klagenfurt. Hier hat sie unter anderem bereits „Die Fledermaus“, „Tosca“, „Sister Act“ und die Oper „Stallerhof“ von Gerd Kühr dirigiert, wofür sie exzellente Kritiken erntete. „Kompositorisch arbeite ich derzeit auch an einem Liederzyklus für Stimme, Klavier und Perkussionsinstrumente. Und es liegen auch schon einige Anfragen für weitere Orchesterstücke vor. Mein absoluter Traum wäre es, eine große Oper oder ein großes Ballett komponieren zu können.“
Mittwoch, 30. April 2025
Wiener Concert-Verein
Hannah Eisendle | Dirigentin
Paul Kropfitsch | Violine
Joseph Haydn
Symphonie C-Dur, Hob. I:60, „Il distratto“
Anna Clyne
Sound and Fury
Jean Sibelius
Sechs Humoresken für Violine und Orchester, opp. 87 und 89
Hannah Eisendle
Neues Werk (Uraufführung)