Sturm um den Eiffelturm: Klaus Mäkelä dirigiert das Orchestre de Paris
Von Anne-Catherine Simon
28.01.2025
Man hatte den jungen Mann in Sankt Petersburg gewarnt: Der berühmte Franzose komponiere zu verführerisch, von seiner Musik solle man sich lieber fernhalten. „Es ist besser, diese Musik gar nicht zu hören, denn man setzt sich sonst der Gefahr aus, sich an sie zu gewöhnen, und schließlich liebt man sie womöglich.“ Der strenge Warner war Nikolai Rimskij-Korsakow, sein Student: Igor Strawinsky.
In einem hatte Rimskij-Korsakow jedenfalls Recht. Wer Debussy hört, „riskiert“, ihn zu lieben. Das kann einem schon bei den allerersten sphärischen Klängen seiner „Trois Nocturnes“ für Orchester und Frauenchor (1897–1899) passieren. Diese „Nachtstücke“ klingen lange nicht so nächtlich, wie ihr Titel suggeriert. Die Inspiration dafür kam von den mit Farbe und Licht spielenden Dämmerungsbildern des US-Malers James Whistler. Ihn hatte Debussy bei den legendären Dienstag-Salons des Dichters Stéphane Mallarmé kennengelernt, bei denen auch ausländische Künstler wie Rilke, W. B. Yeats oder Stefan George verkehrten. Thematisch haben Debussys Stimmungsbilder jedoch wenig mit Whistler zu tun. Auf einen trägen Wolkenzug folgt ein Fest, in dem Luft und Licht mitzutanzen scheinen. Schließlich finden wir uns am Meer wieder, aus dem der gefährlich lockende Gesang der Sirenen erklingt.
„Trois Nocturnes“ zählt zu den Werken, die das Orchestre de Paris unter der Leitung von Klaus Mäkelä im Februar an einem seiner zwei französisch-russischen Abende im Wiener Musikverein spielen wird: Musik aus einer Zeit – dem letzten Drittel des 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts –, in der russische und französische Komponisten beträchtlichen Einfluss aufeinander hatten. Debussy etwa hatte schon als Student Nadeschda Filaretowna von Meck kennen gelernt, Tschaikowskijs Freundin und Mäzenin, auch Zeit bei ihr in Moskau verbracht. Den bereits 1881 verstorbenen Modest Mussorgskij lernte er zwar nie kennen, aber in den ersten Takten seiner „Nocturnes“ greift er unverkennbar eine Idee aus einem der Lieder des Russen auf. (Igor Strawinsky wiederum variierte Debussys erste Wolkenklänge später am Beginn seiner Oper „Le Rossignol“.)
Ravel war es, der 1909 eine Klavierfassung von Debussys „Nocturnes“ erstellte. Die Freundschaft zwischen den beiden Komponisten begann sich damals schon einzutrüben, Debussy war nicht immer freundlich zu seinem aufstrebenden Kollegen. Auch der Musikkritiker Pierre Lalo trug zur Zerrüttung bei, er unterstellte, Ravel habe von Debussy abgekupfert.
Bewunderung und Beunruhigung – das Verhältnis von Claude Debussy und Igor Strawinsky lässt sich als ambivalent beschreiben.
Über Ravels Klaviersuite „Le Tombeau de Couperin“ (Gedenkmusik, wörtlich „Grabmal“ für Couperin) spottete Lalo: „Das ist nett. Aber um wie vieles netter wäre eine Gedenkmusik für Ravel, von Couperin“ … Die Nachwelt ist seiner Meinung nicht gefolgt: „Le Tombeau de Couperin“ (im Musikverein in Ravels Orchesterfassung zu hören) wurde eines seiner meistgespielten Werke. Es hat mit Debussys „Nocturnes“ gemeinsam, dass die Musik viel heller und lebensfroher klingt, als der Titel erwarten lässt – und nicht nur der Titel: Maurice Ravel widmete jedes der sechs Stücke einem im Weltkrieg gefallenen Freund. Zudem stand er 1917, als er den Großteil des Werks schrieb, unter dem Eindruck des Todes seiner Mutter, der ihn in Verzweiflung stürzte.
Dennoch steckt sein „Tombeau“ nach einem tragisch gestimmten Auftakt (Prélude) voller Energie, Lebensfreude und Leichtigkeit. Mit jedem Satz griff Ravel einen barocken Tanz auf. Der wohl bekannteste Satz, die Forlane, ist wie das ganze Werk von Couperins Forlane in E-Dur inspiriert. Aber auch von einer kuriosen Nachricht, die 1914 kursierte: Sie betraf den Tango, der sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts, ausgehend von Paris, in Europa ausgebreitet hatte. Kirchliche Würdenträger ereiferten sich über diesen in ihren Augen unzüchtigen „Wildentanz“. Laut Zeitungsberichten soll Papst Pius X. schließlich empfohlen haben, statt des Tangos wieder einen alten venezianischen Tanz zu kultivieren, die „furlana“ (frz. Forlane) …
Weniger ein Grabmal denn ein farbenfrohes Denkmal ist „Le Tombeau de Couperin“ – und Ravel setzte es nicht nur Couperin (der auch für Debussy ein wichtiges Vorbild war), sondern mit ihm der französischen Musik überhaupt. In den Jahren des Ersten Weltkriegs war das der Patriotismus, der Ravel entsprach. Als Soldat war er wegen seiner Schmächtigkeit trotz mehrerer Anläufe abgewiesen worden – er wog in jenen Jahren nur 48 Kilo, zu Kriegsende sogar 45, bei 1,61 m Größe; letztendlich ließ man ihn Hilfsdienste als Lastwagenfahrer machen.
Doch der Sohn eines französischsprachigen Schweizers und einer Baskin war alles andere als ein nationalistischer Eiferer. „Oh nein, es ist nicht so, wie Sie glauben, die Marseillaise wird darin nicht vorkommen“, schrieb er einem Freund über seinen „Tombeau“. Auch von heutigen Initiativen, in politischen Konflikten die Kultur anderer Länder zu „canceln“, hielte er wohl nichts, weigerte er sich doch damals, die „französische Liga für die Verteidigung der französischen Musik“ zu unterstützen, die zum Verbot ausländischer „Feindmusik“ in Frankreich aufrief.
Wäre Russland damals nicht mit Frankreich verbündet gewesen, die Karriere des jungen Igor Strawinsky wäre wohl sehr anders verlaufen. Seit 1910 machte er in Paris auf sich aufmerksam. In diesem Jahr feierte Ravel mit dem Zyklus „Ma mère l’oye“ („Mutter Gans“) nach Märchen des Dichters Charles Perrault Erfolge, sowohl für Klavier als auch für Orchester: Die raffinierte Schlichtheit dieser Musik bezauberte das Publikum. Noch wichtiger aber war dieses Jahr wohl für den 27-jährigen Strawinsky: Zum ersten Mal gab es dank Sergej Diaghilews in Paris neu gegründetem Ensemble Ballets Russes eine große und gefeierte Strawinsky-Premiere: „Der Feuervogel“. Bei dieser Aufführung lernte der junge Russe den 13 Jahre älteren Ravel kennen, mit dem ihn bald eine enge Freundschaft verbinden sollte – und den 20 Jahre älteren Debussy.
„Der Feuervogel“ beeindruckte Debussy, Strawinskys ein Jahr später aufgeführtes Ballett „Petruschka“ über eine zum Leben erwachende Gliederpuppe entflammte ihn. Er studierte die Partitur und schrieb dem jungen Russen von seiner Bewunderung für die „klangliche Magie“, die „geheimnisvolle Transformation der mechanischen Seelen“ darin. Wie nahe ihm besonders dieses Strawinsky-Werk stand, erkennt man auch an den Einflüssen in späteren seiner Werke, wie den „Préludes“ oder dem für Diaghilews Ensemble geschriebenen Ballett „Jeux“.
Debussy, der Strawinsky in der Folge sehr unterstützte, saß auch 1912 mit diesem am Klavier, um einem privaten Publikum das noch unvollendete Werk „Le Sacre du printemps“ in Klavierfassung zu präsentieren: „Strawinsky hatte darum gebeten, seinen Hemdskragen zu öffnen“, schilderte der Musikwissenschaftler Louis Laloy die Vorführung. „Mit in den Brillengläsern erstarrtem Blick, die Nase auf die Klaviatur gerichtet, summte er von Zeit zu Zeit eine ausgesparte Partie und entfachte gemeinsam mit den agilen und weichen Händen seines Duopartners, der ihm ohne Probleme folgte und alle Schwierigkeiten zu beherrschen schien, einen betäubenden Klangrausch. Als sie ihr Spiel beendet hatten, gab es keine Umarmungen und keine Komplimente. Wir blieben stumm, wie von einem gerade vorübergezogenen Sturm niedergeworfen, der aus den Tiefen der Zeiten kam und unser Leben an den Wurzeln packte.“
Dieser „Sturm“, der gemeinsam mit dem avantgardistischen Tanz bei der Uraufführung 1913 zum Riesenskandal führt, scheint Debussy nicht nur überwältigt, sondern auch beunruhigt zu haben. Die Richtung, die Strawinskys Musik einschlug, war ihm nicht mehr ganz geheuer. Fürchtete er auch, durch die musikalische Entwicklung „abgehängt“ zu werden? „Strawinsky neigt sich auf gefährliche Weise der Seite Schönbergs zu“, schrieb er 1915, drei Jahre vor seinem Tod. Einst war Strawinsky vor der Musik dieses Mannes gewarnt worden. Nun, schien es, war es am 50-jährigen Debussy, sich vor Strawinskys Musik zu fürchten.
Keine 15 Jahre trennen „Le Sacre du printemps“ von den „Trois Nocturnes“ – und doch tun sich Abgründe zwischen ihnen auf: Abgründe, die auch die einer Epoche waren.
Orchestre de Paris – Philharmonie
Damen des Singvereins der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Klaus Mäkelä | Dirigent
Maurice Ravel
Le Tombeau de Couperin
Claude Debussy
Trois Nocturnes. Symphonisches Triptychon für Orchester und Frauenchor
Igor Strawinsky
Le Sacre du printemps
Orchestre de Paris – Philharmonie
Klaus Mäkelä | Dirigent
Maurice Ravel
Ma mère l’oye. Suite für Orchester
Igor Strawinsky
Petruschka. Burleske Szenen in vier Bildern
Modest Mussorgskij
Bilder einer Ausstellung (Orchesterfassung von Maurice Ravel)