Spontaneität nach Strich und Faden: Christian Thielemann
Von Walter Weidringer
28.03.2025
Herr Thielemann, neben Ihren regelmäßigen Auftritten am Pult der Wiener Philharmoniker waren Sie schon mit verschiedenen anderen Orchestern im Musikverein, zuletzt sehr häufig mit der Staatskapelle Dresden. Ende Juni kommen Sie nun erstmals mit der Staatskapelle Berlin nach Wien. Was sagen Sie allen hier gastierenden Klangkörpern über die Akustik des Goldenen Saals?
Kinder, haut nicht so drauf, das brauchen wir gar nicht! Dabei habe ich von Daniel Barenboim ein toll aufgestelltes Orchester übernommen: Diese Leute sind durchaus geneigt, auch leise zu spielen. Probleme gibt es in diesem Punkt eher mit amerikanischen Orchestern – und auch die so riesig wirkende Berliner Philharmonie verleitet einen gern, zu viel zu geben. Die Staatskapelle ist aber enorm flexibel, weil sie zugleich von Barenboim diese sehr spontane Art des Musikmachens gewöhnt war: Diese Leute wussten also nie, ob er da schneller wird oder dort das Ritardando macht oder nicht. Das ist mir enorm zugutegekommen – und so haben wir uns auch sofort blendend verstanden. Auf Asien-Tournee haben wir schon die Brahms-Symphonien gespielt, Beethovens Fünfte, Bruckners Siebente, das „Tristan“-Vorspiel – alles mit jeweils nur einer Durchlaufprobe. Und das ging so was von toll! Da kann ich Daniel nur sehr, sehr dankbar sein.
Es gibt aber auch Orchester, die keine Überraschungen lieben und alles in engem Rahmen abgesteckt haben wollen …
Das ist ja gottlob auf dem Niveau, auf dem wir arbeiten, nicht der Fall. Auch die Wiener Philharmoniker schätzen das Spontane ungemein – einfach, weil ihnen sonst fad wird. Und alles in den Proben genau festzulegen und am Abend nur zu reproduzieren, das langweilt mich genauso. Da ist es, trotz kurzfristiger Unsicherheiten, letztlich sogar ein Vorteil, wenn die Orchesterbesetzungen wechseln: Das hält einen frisch! Man muss es nur gut austarieren. Mit der Freiheit muss man eben verantwortungsvoll umgehen.
Sie und die Staatskapelle Berlin: Sind das noch Flitterwochen, oder ist es der Anfang einer Ehe? Oder sind solche Metaphern dumm und untauglich? Wie viel Beziehungsarbeit müssen ein Chefdirigent oder Generalmusikdirektor und ein Orchester leisten?
Nein, das ist gar nicht dumm. Und es geht eben nicht nur um gute Aufführungen, sondern um alles dahinter, von Probespielen bis zu Pensionierungen, um die gesamte Atmosphäre, die Sie verbreiten. Aus all dem ergibt sich, ob die Flitterwochen anhalten oder nicht. Zudem ist es auch Aufgabe des Chefs, das Repertoire breit zu halten. Sie müssen nicht alles selber dirigieren, das können Sie gar nicht, weil Ihnen nicht alles gleich liegt. Aber Sie müssen, und das gehört genauso zur Beziehungsarbeit, auch Kollegen ranlassen. Ich höre mir Proben und Aufführungen an, tausche mich mit dem Orchestervorstand darüber aus. Und das gilt natürlich auch für das Gesangsensemble: Welches Pflänzchen blüht im Verborgenen, wen sollte man mal eine größere Partie singen lassen, sodass dann alle sagen: Mensch, wo habt ihr die oder den denn her? So etwas macht mir Spaß seit meiner Zeit in Nürnberg.

Schon im April kommen Sie für die Komplettierung Ihres Brahms-Zyklus zu den Philharmonikern in den Musikverein zurück. Sein Doppelkonzert wird manchmal als verkappte Fünfte Symphonie bezeichnet. Finden Sie das richtig?
Die größte Tücke ist, es orchestral nicht zu stark werden zu lassen, denn es ist bei allem Zupackenden auch filigrane Musik. Und dann ist es natürlich ein sehr spontanes Stück, für das Sie zwei Leute brauchen, die gut aufeinander eingestimmt sind. Wenn die Solisten wirklich toll zusammenpassen, so wie bei uns Augustin Hadelich und Gautier Capuçon, dann springt das auch aufs Orchester über. Als Dirigent aber muss man dabei kühlen Kopf bewahren, damit es eben nicht zu einer Fünften Symphonie wird.
Ist das Werk nicht auch für den Konzertbetrieb eine gewisse Herausforderung?
Ja, sicher. Übrigens halten es auch die Veranstalter für spröder als zum Beispiel Brahms’ Violinkonzert – und dann müssen sie auch noch zwei Sologagen zahlen! Unerlässlich ist aber auch ein Orchester, das schön begleiten kann. Das ist ja für mich eines der Wunder der Wiener Philharmoniker, dass die eben einerseits aus diesen großen Solisten bestehen und andererseits als Opernorchester auch so subtil begleiten, immer im Dialog mit der Bühne oder mit den Solisten.
„Mit der Freiheit muss man eben verantwortungsvoll umgehen.“
Christian Thielemann
Auch Brahms’ großartige Vierte gilt manchmal als spröde …
Fahren Sie mal abends im Novembernieselregen mit dem Zug von Hamburg nach Sylt: Dann wissen Sie, wie dieser Anfang geht! Da kann Brahms noch so lange in Wien gelebt haben, er ist Norddeutscher geblieben. Da muss schon eine gewisse Wärme in den Ton rein, aber nicht zu viel. Und dieses Suchen am Beginn, dieses Nichtwissen, wo es hingeht mit dieser unterbrochenen Melodie! Genau dieses Tastende, das müssen Sie reinbekommen – als Anfang eines Spannungsbogens. Mich hat diese Symphonie immer an einen dieser alten Dampfzüge erinnert, die ganz langsam beginnen. Aber wenn die einmal in Fahrt sind, mit 120 oder 150 Sachen, dann sind sie unaufhaltsam. Wie dann die Stimmung mit dem Andante wechselt, und diese herrlichen Klarinettenmelodien: Nirgends wird auf die Tränendrüse gedrückt!
Das Finale, eine große Passacaglia, ist dann janusköpfig, es schaut nach vorn zu Schönbergs „entwickelnder Variation“ und zugleich zurück ins Barock.
Man muss diese beiden Blickwinkel miteinander verbinden – und dabei noch dazu zeigen, dass Brahms ein durch und durch romantischer Komponist war, einer, der als Interpret selber mit den Tempi sehr freizügig umging. Das hatte er mit Beethoven gemeinsam. Das ist dann eben auch der Gegensatz zu dem sogenannten Klassischen: dieses Überbordende! Man darf da sein Pulver bloß nicht zu früh verschießen.
Für jede seiner Symphonien hat Brahms den Typus des Scherzos völlig neu entwickelt, und gerade in der Vierten zeigt er sich ganz allgemein als ein Komponist der ausgeklügelten, verschleierten Übergänge. So einer musste doch Bruckner mit seinen Generalpausen und blockhaften Kontrasten primitiv finden, oder?
Das ist, glaube ich, eine völlig andere Welt. In Bruckners Generalpausen muss man den Klang der Orgel in der Kirche mitdenken, da bricht die Musik nicht ab, sondern geht weiter. Und wenn Sie die Scherzi ansprechen: Ja, die ähneln einander bei Bruckner – aber sie sind keineswegs gleich, und keines davon ist schwach. Und wenn ich auf Bruckner jene Stilmittel anwenden würde, die mir bei Brahms vorschweben, also dass ich mir Tempofreiheiten nehme und auch aus dem Moment heraus agiere, dann wäre Bruckners Architektur zerstört. Und insofern war er womöglich der noch viel größere Kalkulator als Brahms – nur hat er anders kalkuliert, schon allein in den äußeren Dimensionen.
Für Ihr Gastspiel mit der Staatskapelle Berlin haben Sie die Sechste ausgesucht, die sich ja von den anderen reifen Bruckner-Symphonien am stärksten unterscheidet.
Die habe ich noch nicht so oft dirigiert wie andere. Wenn man sie vorschlägt, heißt es in der Regel vorher: Hm, die Sechste – wie ging die gleich nochmal? Und hinterher dann: Mein Gott, ist die toll, warum wird die eigentlich nicht viel öfter gespielt?! Er selbst hat gesagt, die Sechste sei seine „Keckste“: Vielleicht hat er als keck empfunden, dass er da ein paar seiner eigenen Regeln durchbrochen hat. Sie hat mir jedenfalls immer besonders gefallen.
Dazu kommen Orchesterlieder von Richard Strauss, gesungen von Erin Morley. Wo stehen diese Werke zwischen Oper und Lied?
Es wäre ein großes Missverständnis, sie generell nahe an die Oper zu rücken. Denn sie sind sehr unterschiedlich und zum Teil durchaus grazil. Natürlich, da gibt es diese Hymnen für Kaiserin-Stimme, dann solche für ganz hohen Sopran, dann wieder für lyrischen Sopran und auch noch welche für Tenor und für Bass. Stilistisch ist mir wichtig, dass man sich nicht zum Sentimentalen verleiten lässt. Bei Strauss muss es immer eine gewisse, auf den Text bezogene Erzählung sein, voll Mozart’scher Noblesse. Distanz wäre das falsche Wort, aber: Geschmack. Mit großem Geschmack – und Gefühl für die Phrase.
Wiener Philharmoniker
Christian Thielemann | Dirigent
Augustin Hadelich | Violine
Gautier Capuçon | Violoncello
Johannes Brahms
Konzert für Violine und Violoncello mit Orchester a-Moll, op. 102
Symphonie Nr. 4 e-Moll, op. 98
Freitag, 27. Juni 2025
Samstag, 28. Juni 2025
Staatskapelle Berlin
Christian Thielemann | Dirigent
Erin Morley | Sopran
Richard Strauss
Ausgewählte Orchesterlieder
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 6 A-Dur