Schönheit in Tönen und Formeln: Musikverein Perspektiven Anton Zeilinger

© Julia Wesely
Ihn vorzustellen hieße Eulen nach Athen tragen. Nicht alle wissen jedoch, dass der Quantenphysiker und Nobelpreisträger Anton Zeilinger ein leidenschaftlicher Musikmensch ist. Nach Michael Haneke, Georg Baselitz und Peter Zumthor ist er der vierte Nicht-Musiker, der im Zentrum von Musikverein Perspektiven steht. Intendant Stephan Pauly hat Professor Anton Zeilinger zum Gespräch über Musik und Physik getroffen.

Von Markus Siber

05.07.2024

Herr Professor Zeilinger, in den Musikverein Perspektiven wollen wir in Erfahrung bringen, welchen Zugang Persönlichkeiten zu Musik haben, die sich ihr sehr verbunden fühlen, aber aus einem anderen beruflichen Kontext stammen. Diesmal dürfen wir diese spannende Reise mit Ihnen antreten. Sie sind ein ausgewiesener Musikfreund und ein häufiger Besucher im Musikverein. Daher die Frage: Was bedeutet Musik für Sie? Ist sie eine schöne Bereicherung? Ist sie unverzichtbar? Ist sie lebenswichtig?
Musik ist für mich unverzichtbar und lebenswichtig – schon von klein auf. Mein Vater, selbst ein Wissenschaftler, war ein ausgezeichneter Geigenspieler. Im Wien der 20er Jahre finanzierte er sich sein Studium, indem er Stummfilme musikalisch begleitete. So spielte Musik auch später eine große Rolle bei uns zu Hause. Ich habe früh Geige gelernt – allerdings mit äußerst mäßigem Erfolg.

Welche unvergesslichen Momente gab es in Ihrer musikalischen Biographie?
Musikalische Gänsehaut-Erinnerungen gibt es viele, zum Beispiel ein Festwochenkonzert im Musikverein unter Karl Böhm, der die Wiener Philharmoniker dirigierte, unter anderem mit der Siebten Symphonie von Bruckner. Der Beginn war unglaublich, das habe ich heute noch im Ohr.

Was war das Unglaubliche?
Das kann ich gar nicht begründen. Es gibt Emotionen, die sich schwer erklären lassen. Musik wirkt auf mich primär emotional.

Am ersten Abend der Musikverein Perspektiven, deren Programm Sie im Dialog mit uns entwickelt haben, hören wir Haydns „Schöpfung“ und „Ylem“ von Karlheinz Stockhausen – zwei Werke, die auf ganz unterschiedliche Weise die Entstehung des Universums beschreiben. Ist in der modernen Physik eigentlich klar, was Natur bedeutet?
Der Physiker oder die Physikerin haben einen Naturbegriff, der vom allgemeinen Verständnis abweicht. Natur ist aus physikalischer Sicht alles um uns, es geht also nicht nur um die belebte Natur. Auch der ganze Kosmos gehört zur Natur. Die Natur ist die Dialogpartnerin des Naturwissenschaftlers, der versucht, Konzepte und Theorien zu entwickeln und diese dann an der Natur zu testen.

An der Musik interessiert Sie unter anderem, wie sie die Natur darstellt. Warum?
Weil es einfach schön ist, das nachzuvollziehen. Wie klingt ein Sonnenaufgang, das Aufbrechen des Lichts, der Gegensatz zur Dunkelheit? Und natürlich kann man physikalische Parallelen feststellen. Haydns riesiger C-Dur-Akkord am Beginn der „Schöpfung“ passt gut zum Urknall. In „Ylem“ von Stockhausen werden der Urknall und die Ausdehnung des Universums ja dann übrigens auch ganz bewusst musikalisch in Szene gesetzt.

Der Titel des Abends lautet: „Die Natur – Schönheit in Musik und Physik“. Sehen Sie eine Verbindung zwischen dem Schönheitsbegriff in der Physik und in der Musik?
Der Schönheitsbegriff in der Physik entstand im Wesentlichen in den letzten 300 bis 400 Jahren. Vor allem Newton hat sich um die mathematische Beschreibung der Natur verdient gemacht. Schönheit liegt für ihn dann vor, wenn sich die Komplexität der Materie mit einigen wenigen mathematischen Symbolen zusammenfassen lässt. Leider lässt sich diese Schönheit nicht allen vermitteln, weil eine gewisse mathematische Vorbildung nötig ist. In der Kunst gibt es manchmal eine vergleichbare Tendenz, Dinge so einfach wie möglich darzustellen.

Der zweite Abend der Musikverein Perspektiven steht unter dem Titel „Kreativität – Wie kommt das Neue in die Welt?“. Das ist ein Thema, das Sie als Physiker sehr beschäftigt – und natürlich auch für die Welt der Musik große Relevanz hat. Wodurch haben Sie in Ihrer Karriere gemerkt, dass Sie Neuem auf der Spur sind? Und warum interessiert Sie diese Frage insbesondere in Bezug auf die Kreativität von Komponist:innen?
Interessanterweise habe ich meistens sofort gespürt, wenn sich bei meinen Forschungen etwas Neues abzeichnet. Wichtig ist, dass man auf seine Intuition vertraut. Als wir vor ca. 50 Jahren in unserer Forschungsgruppe eine fundamentale Frage zu lösen hatten, habe ich mich hingesetzt und angefangen zu rechnen. Ich habe eine ganze Nacht durchgerechnet. Und am Morgen hatte ich das Ergebnis. Ich wusste, dass ich da etwas grundlegend Neuem auf der Spur bin.
Während meiner vielen Konzert- und Opernbesuche habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, ob die Kreativität des Wissenschaftlers mit jener eines Komponisten vergleichbar ist. Funktioniert der menschliche Geist in unterschiedlichen Disziplinen sozusagen auf vergleichbare Art? Es ist jedenfalls für mich spannend nachzuvollziehen, wie sich Komponist:innen aus dem Feld bisheriger Konventionen und Ästhetiken vorwagen, dieses auch ganz bewusst hinter sich lassen. Viele Namen könnte man da nennen. Im Schönberg-Jahr kommt einem natürlich zunächst die revolutionäre Zwölftontechnik in den Sinn. Aber auch in der früheren Musikgeschichte gibt es viele Beispiele. Eines davon ist Giovanni Pierluigi da Palestrina, der mir durch die Oper von Hans Pfitzner sehr ans Herz gewachsen ist.

Das Besondere an diesem zweiten Abend der Musikverein Perspektiven ist ja auch, dass er zwei Schauplätze hat. Mit der Regisseurin Andrea Breth und dem Schriftsteller Christoph Ransmayr werden Sie an diesem Abend im Brahms-Saal über Kreativität diskutieren, danach wechseln die Musikverein Perspektiven in die Wiener Staatsoper, wo Pfitzners von Ihnen so geschätzte Oper „Palestrina“ auf dem Programm steht.
Das wird sicher ein Fest, noch dazu unter der Leitung von Christian Thielemann. Seit meiner Kindheit bin ich ein Opernnarr. An Pfitzners Oper fasziniert mich, wie die Hauptfigur, also der Komponist Palestrina, in kreativer Auseinandersetzung mit Ansprüchen der Kirche und seiner Zeit Fesseln bricht und seine für damalige Verhältnisse unerhörte „Missa Papae Marcelli“ schreibt. Diese fantastische Oper kenne ich übrigens nicht nur aus der Publikumsperspektive: In meinen Studententagen habe ich bei einer ganzen „Palestrina“-Produktion als Statist mitgewirkt.

Der dritte Abend unserer Reihe beschäftigt sich musikalisch und in Form von Experimenten mit dem Hören von Musik und mit der Frage, wie das menschliche Gehirn Komplexität verarbeiten kann. Es wird eine Begegnung von Musik und Physik auf der Bühne geben. Sie werden, gemeinsam mit Ihrem Kollegen Bernhard Jakoby, den Großen Musikvereinssaal in ein Labor verwandeln.

„Musik ist offenbar in der Lage, Unbeschreibbares darzustellen. In der Quantenphysik ist das oft schwieriger, da es Dinge in der Natur gibt, die wir mit Worten oder Formeln nicht ausdrücken können.“ – Anton Zeilinger

Ja, wir wollen das Publikum in akustische Experimente mit Obertonreihen einbeziehen und zeigen, dass wir als Menschen dank unseres Gehirns grundsätzlich dazu in der Lage sind, mehr zu hören, als wir eigentlich hören. Anhand von Fragmenten aus Mozarts „Requiem“, gespielt vom Concentus Musicus Wien, wollen wir dann diese Frage noch vertiefen. Wir stellen Abschnitte, die Mozart nur teilweise ausgeführt hat, der später ergänzten Vollversion gegenüber. Vielleicht stellt sich dann heraus, dass man bei der reduzierten Form doch das ganze Stück hört.

Der vierte Abend der Musikverein Perspektiven ist ein Gesprächskonzert mit dem Pianisten Sir András Schiff. Was erwartet uns an diesem Abend?
Ich bin mit Sir András befreundet, wir kennen uns seit einiger Zeit. Besonders stark verbindet uns unsere gemeinsame Liebe zu Franz Schubert. Ich kann gar nicht so gut erklären, was mich an Schubert nicht loslässt. Es kann sein, dass es mit dem Wiener Untergrund zu tun hat, dem Wienerischen, weil ich ja ab meinem zehnten Lebensjahr in dieser Stadt aufgewachsen bin. Bei manchen Stücken von Schubert habe ich, wenn ich sie zum ersten Mal höre, das Gefühl, sie schon mal gehört zu haben. Schubert hatte da einen fantastischen Zugang zur Emotionalität, der mich offenbar besonders anspricht. Das möchte ich im Gespräch mit Sir András näher ergründen.

Dieser Abend mit Schubert-Musik wird kombiniert mit Musik von Johann Sebastian Bach, bei dem Sie ja auch der mathematisch-strukturelle Aspekt interessiert.
Sir András und ich werden einiges aus dem „Wohltemperierten Klavier“ aussuchen, das er dann auch spielt. Die wohltemperierte Stimmung ist ja eine rein mathematische Erfindung. Und es drängt sich die Frage auf, wie sich diese mathematische Erfindung auf den musikalischen Ausdruck auswirkt. Das wollen Sir András und ich gerne durchdiskutieren. Die verschiedenen Tonarten, obwohl sie doch wohltemperiert mathematisch gleich sein sollten, sind für uns nicht wirklich gleich.

© Julia Wesely

Und dann erfüllen Sie sich an diesem Abend einen Wunsch mit einem besonderen Werk, der Arpeggione-Sonate von Schubert …
In einem Konzert hörte ich einmal Schuberts Sonate gespielt auf dem Cello, mit Sir András Schiff am Klavier. Ich fragte ihn, wie diese Sonate bei ihrer Uraufführung geklungen haben muss, wo sie auf dem Arpeggione gespielt wurde – einem Instrument, das de facto nur zehn Jahre verwendet wurde. Daher freue ich mich umso mehr, dass wir dieses Meisterwerk nun im Musikverein mit Christophe Coin am Arpeggione und Sir András Schiff am Hammerklavier hören werden.

Schubert wird auch eine Rolle spielen am fünften Abend der Musikverein Perspektiven. An diesem geht es tatsächlich um analoge Fragestellungen zwischen Quantenphysik und Musik. Sie haben immer wieder erwähnt, dass es in der Quantenphysik Erkenntnisse gibt, die sich nicht beschreiben lassen – und zwar nicht durch Sprache, schon gar nicht durch Alltagssprache, aber auch nicht durch Mathematik. Könnten Sie das vielleicht kurz erläutern?
Sagen wir mal so, mathematisch beschreibbar ist in der Quantenphysik einiges, das intuitiv nicht beschreibbar ist. Das ist das Interessante. Wobei auch mathematisch nicht alles, nicht das gesamte Naturgeschehen, beschreibbar ist. In der Quantenphysik sprechen wir vom Phänomen der „Verschränkung“: Zwei miteinander verbundene Teilchen, verschränkte Teilchen, haben im Moment der Messung dieselben Eigenschaften, ohne dass Information ausgetauscht wird und ohne dass die Eigenschaft vorhergesagt werden kann. Das heißt, dass ein Zufall vorliegt, der grundsätzlich nicht beschrieben werden kann und nicht unserer Alltagserfahrung von Zufall entspricht. In der Verschränkung geht es darum, dass es hier Zusammenhänge gibt, ohne dass etwas zusammenhängt. Im Englischen lässt sich das besser ausdrücken: „correlations without correlata“. Wenn man das durchdenkt, dann haut es einen um. Das widerspricht alles völlig unserer Alltagserfahrung von Wirklichkeit. Das Bild, das wir uns von der Wirklichkeit machen, ist ein A-posteriori-Bild, nachdem wir unsere Beobachtungen gemacht haben. Aber es ist nicht immer ein Bild dessen, was vor der Beobachtung existiert hat und unsere Beobachtung erzeugt.

Ein berühmtes Beispiel für diese Themenstellung ist die Diskussion zwischen Niels Bohr und Albert Einstein. Einstein war ein Realist. Für ihn musste alles, was er beobachtete, vorher existiert haben. Aus Bohrs Sicht war das ein Vorurteil. Einstein fragte Bohr einmal: „Glauben Sie wirklich, dass der Mond nicht da ist, wenn keiner hinsieht?“ Und Bohr hat ihm geantwortet: „Beweisen Sie mir doch das Gegenteil.“

Sie haben sich für das letzte Konzert der Musikverein Perspektiven im März Stücke gewünscht, von denen Sie sagen, dass es der Musik eben doch möglich ist, Unbeschreibbares einzuschließen.
Das Ave Verum von Bruckner ist für mich zum Beispiel ein Werk, das ich nur mit Tränen zur Kenntnis nehmen kann. Mir scheint, dass Komponisten mit religiösem Empfinden da eine besondere Note einbringen. Auch Schubert. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang auch die „Mauthausen-Kantate“ von Mikis Theodorakis, die ich vor mittlerweile 50 Jahren zum ersten Mal gehört habe. Da muss man nicht einmal wissen, dass es um Mauthausen geht. Ein unglaublich ergreifendes Werk!  Ich hoffe, dass wir an diesem emotionell aufgeladenen Abend zwischen den Stücken ein bisschen Zeit verstreichen lassen können, damit das Publikum die Eindrücke verarbeiten kann. Während die Musik also offenbar doch in der Lage ist, Unbeschreibbares darzustellen, sind uns in der Quantenphysik oft Grenzen gesetzt: Es gibt Dinge in der Natur, die wir weder mit Worten noch mit Mathematik ausdrücken können. Im Rahmen dieses fünften Konzertes möchte ich ausführlicher über quantenphysikalische Phänomene sprechen und das Publikum dazu einladen, sich selbst über die Beschreibbarkeit der Welt bzw. deren Grenzen Gedanken zu machen.

In Ihrem Buch „Einsteins Spuk“ befindet sich im Abbildungsteil der Goldene Saal des Wiener Musikvereins. Das nehme ich mal als gutes Omen. 
Ja, das ist sicher ein gutes Omen. Das Bild markiert den Moment eines Experiments, als wir Quanten über die Donau geschickt haben: das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker im Jahr 2005 unter Lorin Maazel.

Herzlichen Dank für das Gespräch – wir freuen uns auf die Musikverein Perspektiven.

Der Physiker Anton Zeilinger ist ein leidenschaftlicher Musikmensch. In den Musikverein Perspektiven wird dies deutlich werden: in Konzerten und Gesprächen, die gemeinsam mit dem Nobelpreisträger entwickelt wurden.

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