Musikfreunde
Das Online Magazin
Inspiriert von der eigenen Geschichte
Stephan Pauly im Interview
Auf drei Säulen fußt das Programm der Saison 2023/24. Stephan Pauly, Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde, erläutert im Gespräch mit Walter Weidringer, wie sich das umfangreiche Programm in den Bereichen „Lebendige Tradition“, „Kreatives Programm“ und „Neues Publikum“ zusammensetzt.
„Christian Thielemann ist ein außergewöhnlicher Fall in der Geschichte des Hauses: Sein aktueller eigener Abonnementzyklus ist einer der erfolgreichsten überhaupt und geht deshalb in eine zweite Saison.“
Stephan Pauly
Herr Dr. Pauly, auf Ihrem Schreibtisch liegt das Faksimile eines Plakats, das ein berühmtes Konzert im Musikverein ankündigt – und zwar das berühmte Skandalkonzert des Jahres 1913, das unter Arnold Schönbergs Leitung stattgefunden hat und wegen Tumulten im Publikum abgebrochen werden musste. Für wann planen Sie den nächsten Skandal im Musikverein?
So etwas kann man nicht planen – Gott sei Dank nicht. Man könnte es drauf anlegen, aber dann wirkt es auch gewollt. Deshalb haben wir auch keinen geplant. Aber wir hoffen natürlich, dass unser Publikum hier trotzdem immer wieder Musikerlebnisse hat, die auch überraschend sind, bei denen ihm im besten Sinne die Ohren übergehen. Und wie Sie sich denken können, liegt dieses Plakat nicht ohne Grund hier.
Darauf kommen wir sicher noch zu sprechen. Aber einmal grundsätzlich: Wie ist das Programm der Saison 2023/24 angelegt und gegliedert?
Wir bleiben bei unseren drei bewährten tragenden Säulen. Das bedeutet erstens, die große Tradition dieses Hauses zu bewahren; zweitens, auch ein kreatives Programm anzubieten; und drittens, zusätzlich ein neues Publikum anzusprechen. Um bei dieser Reihenfolge zu bleiben: Im Musikverein steckt so viel Musikgeschichte wie in keinem zweiten Konzertsaal der ganzen Welt. Wir sind das Zuhause der besten Künstlerinnen und Künstler der Klassik. Die empfinden das so und unser Publikum auch. Unzählige sind seit Jahrzehnten hier heimisch, und auch viele Jüngere spüren sofort eine besondere Verbindung zu diesem Ort und dieser Institution, speziell vielleicht zum Goldenen Saal und seiner Akustik. Das weiter zu ermöglichen und zu pflegen ist unsere erste Freude und auch der Löwenanteil unserer Arbeit. In diesem Bereich stellen wir wieder eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern in den Mittelpunkt: zwei, die hier seit langem heimisch sind, nämlich Christian Thielemann und Riccardo Muti, und drei junge, die es werden sollen.
Christian Thielemann ist dabei ein außergewöhnlicher Fall in der Geschichte des Hauses: Sein aktueller eigener Abonnementzyklus ist einer der erfolgreichsten überhaupt und geht deshalb in eine zweite Saison. Wenn ich ausnahmsweise das Neujahrskonzert und die Abokonzerte der Wiener Philharmoniker dazuzählen darf, dann wird Thielemann 2023/24 nicht weniger als 13 Konzerte im Musikverein dirigieren: eine ganz besondere Präsenz,
auf die ich mich unglaublich freue. Selbstverständlich steht er am Pult der Wiener Philharmoniker, mit denen er exemplarisch zusammengewachsen ist, und er kommt wieder mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, nun in seiner letzten Saison als deren Chefdirigent.
Riccardo Muti ist dem Musikverein wie auch den Wiener Philharmonikern bekanntlich durch eine noch längere Geschichte verbunden und wird bei uns auch seine Zusammenarbeit mit dem Chicago Symphony Orchestra fortsetzen. Ich bin nicht nur darüber ganz besonders glücklich, sondern auch, weil er im Rahmen seiner unermüdlichen, breit aufgestellten Jugendarbeit auch mit dem Orchestra Giovanile Luigi Cherubini auftritt.
Wer sind die Jungen?
Unser Vertrauen in die nächste Generation zeigen wir, unserem Konzept folgend, wieder mit einer Dirigentin, nämlich der aus New York stammenden Karina Canellakis; außerdem mit ihrem finnischen Kollegen Santtu-
Matias Rouvali sowie mit der italienischen Pianistin
Beatrice Rana. Was wir in dieser Saison an Energieschüben mit Elim Chan und Lorenzo Viotti erlebt haben, soll sich also fortsetzen. All das spielt sich in den großen Abonnementzyklen ab, die unverändert weitergeführt werden.
Wie hat sich denn der Verkauf nach der Pandemie entwickelt? Sind Sie schon wieder auf dem Vor-Corona-Niveau angekommen?
Noch nicht, aber wir sind gut unterwegs dorthin – und dabei schon wesentlich weiter als andere europäische Häuser, wie ich höre. Viele Programme sind ausverkauft oder sehr gut verkauft; manchmal gibt es noch Ausreißer nach unten, die man vor der Pandemie so nicht gehabt hätte. In dieser Situation darf man nicht nachlassen: Bewusst haben wir nicht an unserem Angebot gespart, sondern bieten ein gewohnt hochkarätiges Programm ohne jeden Kompromiss bei der Qualität.
Aber es wird wohl auch der Musikverein in irgendeiner Form sparen müssen?
Natürlich spüren wir die angespannte wirtschaftliche Lage sehr deutlich. Wir haben wie alle Institutionen und auch jeder private Haushalt massive Kostensteigerungen zu bewältigen. Dass gleichzeitig die Einnahmen noch hinterherhinken, öffnet eine Schere zu unseren Ungunsten. Wir tun vom Marketing her alles dafür, dass sich das verbessert – und fahren ein Sparprogramm in allen Bereichen des Hauses, wo das möglich ist: Von Instandhaltung bis Drucksorten prüfen wir jeden Posten, wie schon seit der Pandemie. Aber wir sparen nicht beim Programm.
Das besteht aber wohl nicht nur aus den großen, bekannten Meisterwerken der Vergangenheit?
Auf keinen Fall – und das bringt mich zur zweiten Säule des Programms. Bei uns kann man Entdeckungen machen. Wir spielen Stücke abseits des Mainstreams, mit ungewöhnlichen künstlerischen Begegnungen, Formationen und Formaten. Wir haben in dieser Saison großartiges Echo auf unsere Musikverein Perspektiven mit Georg Baselitz bekommen, der Russland-Schwerpunkt erregte Aufsehen, unser Festival rund um Beethovens Medizinlöffel ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs gerade angelaufen. Wir merken, dass unser Publikum an neuen Dingen sehr interessiert ist, und bieten so etwas wieder an, in konzentrierten Phasen der Saison.
Bei unserem Festival kommen wir wie gewohnt auf ein Objekt aus unseren Sammlungen zurück – und jetzt kann ich auch das Geheimnis lüften, warum das Schönberg-Plakat hier liegt: Denn als Ausgangspunkt nehmen wir dessen Original – das übrigens höchst empfindlich ist, denn die Papierqualität jener Zeit war besonders schlecht. Dieses Konzert vom 31. Mai 1913 unter Arnold Schönbergs Leitung ist ein Symbol dafür, wie sich die Musikgeschichte damals fundamental und unumkehrbar verändert hat. Schönberg ist couragiert, unerschrocken, unbeirrbar für das eingestanden, was er für künstlerisch notwendig erachtet hat. Das hat uns dazu gebracht, unter dem Titel „Courage!“ über die Haltung von Komponisten nachzudenken und Werke ins Programm zu nehmen, die auf ihre Weise mutig und kompromisslos Stellung beziehen. In diesem vielfältigen Festival gibt es enorm viel zu entdecken. Schönberg selbst wäre am 13. September 2024, und da blicken wir bereits in die übernächste Saison, 150 Jahre alt geworden: Den Geburtstag werden wir mit den „Gurre-Liedern“ begehen, das ist dann das große Finale unserer Schönberg-Feiern. Denn wir beginnen schon in dieser Spielzeit, dieses Jubiläum mit unterschiedlichsten Werken zu begehen, und weisen damit auch einem Künstler einen zentralen Platz zu, der eine enge Beziehung zum Musikverein hatte und von dem viele wichtige Werke in unserem Haus uraufgeführt wurden.
Einen anderen Blickwinkel auf Musik haben schon zweimal die Musikverein Perspektiven geboten. Wie gehen diese weiter?
Die haben wir jeweils ganz unterschiedlich, aber höchst erfolgreich mit Michael Haneke und Georg Baselitz begonnen, und wir setzen dabei unsere beglückende Zusammenarbeit mit Wien Modern fort. Bernhard Günther und ich haben diesmal den Pritzker-Preisträger Peter Zumthor eingeladen, den Architekten von Ikonen der zeitgenössischen Baukunst: Ich nenne nur das Kunstmuseum Kolumba Köln, die Therme Vals, das Kunsthaus Bregenz. Er ist ein leidenschaftlicher Musikmensch und an der ganzen Fülle der Musikgeschichte interessiert. Wir haben ihn in der Schweiz mehrfach besucht und lange Gespräche geführt – darüber, warum eine Sologeige für ihn so wichtig ist, warum ihn Schubert so berührt, was er an Rebecca Saunders toll findet und so weiter. Dabei ist eine lange Strecke von Konzerten entstanden, die etwas ganz Besonderes versprechen: Denn Peter Zumthor wird mit den Mitwirkenden jeweils Werkstattgespräche führen, über die Musik und das Schaffen selbst, auch vor der Folie seiner eigenen Arbeit – darunter Pierre-Laurent Aimard und Irvine Arditti. Das belegt eine wunderbare, enge Zusammenarbeit des Musikvereins mit Wien Modern, die mir auch als solche viel bedeutet.
Der Name Rebecca Saunders ist gefallen …
Die zeitgenössische Musik steht bei uns nach wie vor im Zentrum. Auf Mark Andre folgt nächste Saison Rebecca Saunders, mit der wir ein großes Programm entwickelt haben, das von Orchesterstücken mit Erstaufführungen über Kammermusik bis hin zu Solowerken reicht und auch in Studierendenworkshops weitergeht. Um nur einen Aspekt aus ihrer Arbeit herauszugreifen: Sie denkt mit Vorliebe die Räume mit, nicht nur bei der Komposition, sondern auch bei Wiederaufführungen andernorts. Das finde ich etwas Besonderes, und es wird auch eine wichtige Rolle im Goldenen Saal spielen. Darauf bin ich schon sehr neugierig.
Mit Neugier wollen Sie aber offenbar auch der Vergangenheit begegnen.
Ja, denn mir ist wichtig, dass wir uns immer wieder von der eigenen Geschichte inspirieren lassen. Die Historie des Musikvereins und seine Sammlungen sind einzigartig. Unter dem Titel „Musikverein Nahaufnahme“ werden wir uns in jeder Spielzeit besonderen Momenten der Geschichte widmen. 2023/24 sind das zwei. Zum einen haben wir Igor Levit eingeladen, sich mit Johannes Brahms zu beschäftigen, der für die Gesellschaft der Musikfreunde so wichtig war wie kein anderer Komponist, der hier artistischer Direktor und Leiter des Singvereins war und dessen Nachlass hier aufbewahrt wird. Igor Levit flankiert die beiden Klavierkonzerte, die er gemeinsam mit Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern aufführend wird, mit einem Kammermusikprogramm, das die drei Klaviertrios enthält, und mit einem Rezital, in dem er die späten Klavierstücke spielt. Und zum anderen wird Beethovens Neunte 200 Jahre alt. Das feiert zwar
die ganze Welt, aber bei uns sind unter der Leitung von
Riccardo Muti mit den Wiener Philharmonikern und dem Wiener Singverein die wirklichen Nachfahren der Uraufführungsklangkörper am Werk.
Was Jubiläen anlangt: 2024 ist auch ein Bruckner-
Jahr …
… das wir natürlich nicht sang- und klanglos verstreichen lassen. Wir haben uns aber bewusst dazu entschieden, nicht noch einen herkömmlichen Bruckner-Zyklus zu programmieren: So etwas hat es hier schon mehrfach gegeben und ist auch anderswo zu erleben. Unser Beitrag zu seinem 200. Geburtstag wirft ein anderes Schlaglicht auf den Jubilar. Zu unserer großen Freude war Georg Friedrich Haas sofort Feuer und Flamme, als wir ihm die Idee angetragen haben, seine Musik mit jener von Bruckner in Beziehung zu setzen – weil er eine Affinität zu ihr verspürt und sogar strukturelle Analogien erkennt. Wir haben auch ein langes Interview darüber mit ihm geführt, das auf unserer Website abrufbar ist. Anton Bruckner, beleuchtet aus der Perspektive von Georg Friedrich Haas, einem der wichtigsten zeitgenössischen Komponisten nicht bloß Österreichs, sondern der ganzen Welt: Das ist unser eigener, starker Beitrag zum Bruckner-Jahr.
Wir haben jetzt über die lebendige Weiterführung der Tradition und kreative Programmierungsideen gesprochen – fehlt also noch das Zugehen auf ein neues Publikum.
Unsere dritte Säule, ja. Alles bisher Erwähnte richtet sich ja an die Menschen, die ohnehin längst zu uns kommen und sich bei uns zu Hause fühlen. Wir sind mit einer enormen Zahl von treuen Abonnentinnen und Abonnenten gesegnet, die wir tagtäglich hier begrüßen, die mich im Foyer ansprechen, mit denen ich in der Pause plaudere. Gleichzeitig wissen wir, dass es viele Leute gibt, die den Weg in den Musikverein nicht finden – noch nicht. An die wenden wir uns bewusst, und zwar mit einem Programm, das die Hürden einreißt und spezifische Angebote macht. Der Klassiker darin ist unser Programm für Kinder und Familien, das mein Vorgänger Thomas Angyan vor mehr als 30 Jahren eingeführt hat, eine echte Pioniertat damals. Über die Jahrzehnte ist es wunderbar erblüht, auf um die 50.000 Besucherinnen und Besucher pro Saison, und so führen wir es auch weiter. Das richtet sich in erster Linie an junge Menschen – als Publikum von heute, das wir genauso ernst nehmen wie die Erwachsenen, die mit ihren Abos in den historischen Sälen sitzen und lauschen. Wir führen unsere Konzerte für Menschen mit Demenz weiter, eigentlich ein kleines Projekt mit nur sechs Konzerten im Jahr, aber bereits mit enormer Resonanz: Es hat sich rasend schnell herumgesprochen und wird dankbar angenommen, das letzte Konzert war schon ausverkauft. Damit können wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden, die wir als große Kulturinstitution ja auch tragen – bei einem besonderen Thema, das viele Menschen betrifft, die mit dieser Einschränkung umgehen müssen, als direkt oder indirekt Betroffene. Auch das ist für unser Publikum von heute, das es schwerer hat, am sogenannten regulären Kulturleben teilzunehmen, das wir aber nicht ausschließen wollen, sondern extra zu uns einladen.
In diesem Sinne geht auch unsere Partnerschaft mit der Brunnenpassage weiter, weil wir nach wie vor das Thema der verstärkten Öffnung zu jenen Menschen hin auf unsere Fahnen schreiben, die den Weg in die Kultur nur schwer finden. Vielen sind die Karten zu teuer oder ist der Weg zu weit; auf viele wirkt der Musikverein als Kulturtempel des 1. Bezirks eher abschreckend als einladend; andere können aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen; wieder andere verfügen vielleicht über eine umfassende Bildung, sprechen aber kein Wort Deutsch oder haben bisher keine Bekanntschaft mit klassischer Musik schließen können; manche wissen auch nicht, was die Worte „Zyklus“ oder „Vorverkauf“ bedeuten. Hier nachhaltig Brücken zu bauen ist uns ein besonderes Anliegen. Dazu ist der Musikverein auch Mitglied bei „D/Arts“ geworden, dem „Projektbüro für Diversität und urbanen Dialog“. Zusammen entwickeln wir Strategien, um mit Menschen in Kontakt zu kommen, die von uns und von dem, was wir zu bieten haben, noch nichts oder zu wenig wissen. Dabei steht in der nächsten Saison eine weiterentwickelte Neuauflage unseres Erfolgsprojekts „Wiener Stimmen“ im Zentrum, wieder mit einem großen Konzert im Großen Saal, in Zusammenarbeit mit dem Tonkünstler-Orchester und der Brunnenpassage. Als ein vielfältiges Sinnbild für Inklusion und überraschende Konstellationen und Stile stehen darüber hinaus natürlich auch wieder die Neuen Säle: Auch da wollen wir schon aus einer eigenen Tradition heraus treues ebenso wie neues Publikum anlocken – mit einem großen musikalischen Spektrum und weit geöffneten Türen.
Das Gespräch führte Walter Weidringer.