Die Stimme und das Telefon: Patricia Petibon singt Francis Poulencs „La Voix humaine“
Von Katharina Hirschmann
24.07.2024
„La Voix humaine“ ist ein sehr komplexes Stück. Es zeigt den Dialog einer Frau, die am Telefon mit ihrem Geliebten ist. Dabei hört man jedoch nur ihre Seite. Genau genommen ist es daher ein Monolog. Die Frau ist verzweifelt, weil der Mann ihr das Ende ihrer Beziehung ankündigt. Sie versucht mit allen Mitteln, ihn zurückzuerobern. Erst mit Schmeicheleien, dann mit Drohungen, sich das Leben zu nehmen. Das Ende bleibt offen und lässt viele Deutungsmöglichkeiten.
Gemeinsam mit der Pianistin Susan Manoff habe ich ein Konzept für den ersten Teil des Abends entwickelt, das schon zu „La Voix humaine“, dem zweiten Teil des Programms, hinführen wird. Die von Poulenc vertonte Geschichte von Babar und Célèste, dem Elefantenpaar, wird dabei eine tragende Rolle spielen. Das mag kindisch erscheinen – und ist es in gewisser Weise auch –, aber gerade deshalb entspricht es vor allem der Rolle des Mannes, der im Stück nur ein namenloser „lui“ ist, also „er“. Er scheint egoistisch und infantil. Insofern ist ihm die Rolle des Babar wie auf den Leib geschneidert.
„Die Gegenwart bringt ein Kunstwerk zum Leben, nicht die Vergangenheit.“ – Patricia Petibon
Das Publikum erwartet ein sehr freudianischer Abend voller Verzerrungen und Dekonstruktionen. Wir sind immerhin in Wien! Für mich ist das die perfekte Stadt, um Neues auszuprobieren. Für mich ist Wien die ideale Mischung aus Akademismus und Experimentierfreudigkeit. Deshalb habe ich mir in meiner Herangehensweise an die Oper eine szenische Aufführung überlegt. Konzertant, aber doch szenisch.
Zwei Gemälde sind für mich für die Interpretation des Stücks von Bedeutung: „Weinende Frau“ von Picasso. Darauf sieht man das verzerrte und dekonstruierte Gesicht einer Frau. Für mich steht sie sinnbildlich für das Bild der Frau, die uns in dem Stück „La Voix humaine“ von Jean Cocteau präsentiert wird. Man sieht darin ihre Degradierung, ihre Verzweiflung, ihre Depression. Es stellt sich die Frage, in welchem Geisteszustand die Frau ist. Ist sie bei Sinnen? Lebt sie in der Realität? Oder ist sie einfach nur verzweifelt? Welche Realität wird uns hier präsentiert? Wir werden Zeugen ihrer Lügen, die sie ihrem Gesprächspartner auftischt, und glauben dadurch, die Wahrheit zu kennen. Gleichzeitig müssen wir uns aber fragen: Kennen wir sie wirklich? Sehen wir überhaupt die Realität? Oder findet die Realität vielmehr auf der anderen Seite der Leitung statt?
Das zweite Gemälde, das ich mit der Oper in Zusammenhang bringe, ist „Frühstück im Grünen“ von Manet. Es zeigt eine Gesellschaft beim Picknick. Die Frau, die dabei zwischen den gut gekleideten Herren liegt, ist nackt. Was sagt das über den Blick auf die Frau aus? Und wie hat sich dieser Blick auf die Frau im Laufe der Zeit geändert? Für mich ist diese Frage in diesem Stück zentral.
Ursprünglich ist es kein feministisches Werk. Es wurde von Jean Cocteau 1930 geschrieben, als Frauen noch stark von Männern abhängig waren und das Frauenwahlrecht in Frankreich noch nicht existierte! Und dennoch möchte ich dem Stück eine feministische Wendung geben. Ich möchte es nicht so interpretieren, dass sich die Frau am Ende das Leben nimmt. Das ist ein individueller Anstrich, aber das ist auch legitim. Ich bin Feministin, wenn auch keine, die sich gegen Männer richtet. Ich bin überzeugt davon, dass es Freiheit auch in einer Beziehung geben kann. Es gibt tolle Männer, die Frauen mit Respekt begegnen. Und genauso möchte ich Männern begegnen. Voilà. Es sollte darum gehen, die Frauen zu stärken – und daher möchte ich auch, dass die Frau aufrecht aus diesem Stück hinausgeht. Siegreich. Es gab für sie ja auch ein Leben vor diesem Mann. Also wird es auch ein Leben nach ihm geben. So möchte ich das sehen. Ich will nicht, dass diese Frau sich für den Mann umbringt. Voilà. Das ist meine zeitgenössische Sichtweise.
Überhaupt bin ich überzeugt davon, dass man ein Kunstwerk immer nur durch die Brille einer Gesellschaft betrachten kann. Es gibt die Realität eines Textes, wenn man aber an der Oberfläche kratzt, dann kann eine weitere Realität zum Vorschein kommen. Man kann ein Werk durch seine eigene Sichtweise zum Leben erwecken. Ein Kunstwerk lebt nur durch uns! Die Gegenwart bringt ein Kunstwerk zum Leben, nicht die Vergangenheit. Und so habe ich auch „La Voix humaine“ durch die Brille unserer Gesellschaft betrachtet.
Thematisch bietet das Werk sehr viel. Das Telefon spielt dabei eine wichtige Rolle. Es hat verschiedene Funktionen: Es kann etwa für die onirische, traumhafte Seite stehen. An einem gewissen Punkt nimmt sie einen Schuh als Telefon, es spiegelt also auch ihre wahnhafte Seite wider. Telefone wird es in unserer Fassung daher mehrere geben. Sie sind symbolisch. Denn dadurch, dass wir Zeugen ihrer Lügen werden, glauben wir, dass wir die Wahrheit sehen. Vielleicht ist es aber auch ganz anders! Vielleicht sehen wir eine Lüge, und die Realität verbirgt sich auf der anderen Seite des Telefons? Durch die Ebene des Telefons versteht man, dass einem zwei Parallelwelten präsentiert werden.
Zur Zeit Cocteaus war das Telefon eine geniale Erfindung! Heute ist es ein globaler Katalysator. Es ändert die Art, wie wir uns präsentieren, es ist wie ein verzerrender Spiegel, und ich finde es interessant, sich zu fragen: Wer sind wir wirklich? Auch das verleiht dem Wert Aktualität. Das Telefon hat unsere Welt revolutioniert. Je mehr man in den Mikrokosmos eines Werks eindringt, desto mehr merkt man, dass es ein Makrokosmos ist.
Auch musikalisch ist das Werk interessant. Die Klavierfassung, die wir zur Aufführung bringen, ist intimer, roher als die Orchesterfassung. Auch wenn das Klavier versucht, das Orchester zu imitieren. Die musikalische Sprache ist speziell. Es gibt so etwas wie ein musikalisches Alphabet, das man allerdings selbst schreiben muss. Poulenc hat die Oper nach seinem Chef d’œuvre „Dialogues des carmélites“ komponiert. Dieser Geist wirkt noch nach. Es gibt darin ein Leitmotiv in Momenten der Besinnung, des Mutes, aber auch der Angst vor dem Tod. Dieses Leitmotiv setzt sich harmonisch auch in „La Voix humaine“ fort, wenn es etwa zu Momenten der Angst kommt, vor dem Geliebten oder auch vor der Selbstauflösung. Man hat das Gefühl, sich noch immer in einer Kirche zu befinden. Da ist ein mystischer Grundgedanke, ohne dabei religiös zu sein. Das Ganze ist sehr transzendent.
Es ist auch sehr lyrisch, man muss dabei aber auch sprechen. Stellenweise bleibt das Klavier weg, und die Stimme trägt die Harmonie alleine weiter. Auch der ständige emotionale Wechsel ist sehr herausfordernd – und der Charakter der Frau sehr aufreibend. Sie ist ermüdend! Davon kann ich mich als Sängerin nicht distanzieren. Sobald man jemanden spielt, wird man zu dieser Person. Das ist sehr körperlich – und dadurch auch sehr anstrengend. 45 Minuten sind lang! Es ist ein eigenes Universum, in dem das Publikum zugleich vergisst, dass es eine Sängerin ist, die die Geschichte erzählt.
Es ist keine glatte, lineare Geschichte. Das Stück stößt uns auf unsere Ängste, etwa davor, allein zu sein, verlassen zu werden, auch ohne Begleiter zu sein. „La Voix humaine“ stößt uns auf unsere inneren Abgründe. Daher ist dieses Werk immer aktuell – und deshalb muss es neu belebt werden. Das ist wie mit einem Museum. Wenn man ein Museum geschlossen lässt, verstaubt es. Daher muss man die Komponisten zu neuem Leben erwecken. So leben die Werke der Vergangenheit in uns weiter.
Donnerstag, 3. Oktober 2024
Patricia Petibon | Sopran
Susan Manoff | Klavier