Das Beste aus beiden Welten: Víkingur Ólafsson und Yuja Wang
Von Stefan Ender
10.07.2024
Rolls-Royce und Golf GTI. Maßschuhe und High Heels. Neuwaldegger Bad und Copa Cagrana. Ja: Wenn man die äußerlichen Unterschiede von Víkingur Ólafsson und Yuja Wang beschreiben möchte, muss man die ganz großen Gegensätzlichkeiten bemühen. Und auch bezüglich ihres Klavierspiels wurden schon separate Schubladen für die zwei gefunden. Ólafsson: der Intellektuelle, der Bedächtige, der Maßvolle, „Islands Glenn Gould“ („New York Times“). Wang hingegen würde man in Sportlerkreisen wahrscheinlich als eine „Maschine“ bezeichnen, wenn man an die robuste und gleichzeitig explosive Verve denkt, mit der sich die gebürtige Chinesin durch die Klavierkonzerte von Tschaikowskij, Rachmaninow, Prokofjew und Co ackert. Und doch haben diese beiden Virtuosen, diese beiden disparaten Interpretationswelten am Klavier zueinandergefunden. Beim Riga Jurmala Festival sind Ólafsson und Wang anno 2021 aufeinandergetroffen und haben offenbar sofort künstlerische Sympathien am jeweils anderen entdeckt. Wang war es, die auf den Isländer zuging und ihm den Vorschlag machte, doch auch einmal gemeinsam zu musizieren. Dieser reagierte begeistert und sagte sofort zu.
Die Zusammenarbeit dieser beiden Pianisten überrascht nicht nur bei Betrachtung ihrer unterschiedlichen Images, auch die Vitae der beiden Ausnahmekünstler weisen große Unterschiede auf. Ólafsson wuchs auf Island auf, er beschreibt diesen Ort im rauen Nordatlantik als eine „Insel, die sich immer noch selbst gebiert“. Jeder würde hier jeden kennen, „es gibt keine Hierarchie“. Wetter und Landschaft würden sich ständig ändern, erzählte er begeistert in einer Dokumentation. Mit seinen zwei Schwestern teilte sich Ólafsson ein Zimmer in der Erdgeschoßwohnung seiner Familie – seine Mutter ist Klavierlehrerin, sein Vater Komponist und Architekt. Den größten Luxus stellte ein Steinway-B-Flügel dar, den der kleine Víkingur bald fleißig bespielen sollte.
Yuja Wang wuchs in einer der größten Städte der Welt auf, der zigfachen Millionenmetropole Peking. Ihre Mutter war Tänzerin. Sie habe von klein auf viele leichtbekleidete Körper gesehen, erzählte Wang einmal, vielleicht sei es für sie deshalb natürlich, den eigenen Körper zu zeigen. Der Vater transkribierte Musik und war auch Perkussionist, er sei in rhythmischen Angelegenheiten diktatorisch streng gewesen. In der Wohnung stand ein Klavier, ein Hochzeitsgeschenk an ihre Eltern. Für das Tanzen sei sie zu wenig biegsam und diszipliniert gewesen, und so wurde das Klavier bald zu ihrem liebsten Spielzeug.
Nach den frühen Ausbildungsjahren in Reykjavík und Peking zog es beide – die erste Gemeinsamkeit – nahezu gleichzeitig in die USA. Ólafsson ging im Alter von 18 Jahren nach New York, zum Studium an der berühmten Juilliard School. Wang übersiedelte mit 14 ins kanadische Calgary und wechselte ein Jahr später nach Philadelphia, wo sie am Curtis Institute bei Gary Graffman studierte. (Diesbezüglich wandelte die Pianistin schon zum zweiten Mal auf den Spuren ihres Landsmanns Lang Lang – auch in Peking hatten sie schon bei der gleichen Lehrerin Unterricht gehabt.)
Wenn Planet Ólafsson auf Planer Wang trifft, darf wohl überirdischer Musikgenuss erwartet werden.
Die Tempi ihrer beiden Karrieren waren danach wieder recht verschieden. Ólafsson zog mit Mitte 20 mit seiner Frau nach Oxford und später weiter nach Berlin. Der Wettbewerbsverweigerer gründete 2009 ein eigenes Label, weil er keine Angebote von großen Plattenfirmen bekam. Drei Jahre lang gab er keine Konzerte, sondern machte nur Aufnahmen. Das Tonstudio sei der beste Lehrer, den ein Künstler haben kann, so Ólafsson, weil es die Außenperspektive auf das eigene Tun ermögliche. 2012 tat es Ólafsson seinen Vorbildern Glenn Gould und Leonard Bernstein gleich und probierte sich auch journalistisch aus: im isländischen Fernsehen bei der Serie „Sprechen über Musik“.
Zu diesem Zeitpunkt war Wangs Karriere schon längst raketengleich gestartet. 2007 hatte sie als Einspringerin für Martha Argerich mit dem Boston Symphony Orchestra für Furore gesorgt, zwei Jahre später hatte sie schon einen Vertrag mit einem der großen Labels in der Tasche. Darauf musste Ólafsson noch bis 2017 warten. Wenn er manchmal höre, wie schnell er Karriere gemacht hat, könne er nur lachen, meint der ruhige Isländer: „Ich bin der Langsamste der Welt.“
Den 40-Jährigen und die 37-Jährige eint, dass sie neugierig sind, was die Musik ihrer Zeit anbelangt. Ólafsson hat mehrere Klavierkonzerte isländischer Komponisten uraufgeführt und auch schon mit seiner berühmten Landsfrau Björk zusammengearbeitet. Wang schätzt unter anderem die Musik von Rihanna, Sting, Zaz, Radiohead, den Black Eyed Peas, Keith Jarrett und Art Tatum. Diese Offenheit der beiden spiegelt sich auch im Programm ihres Duoabends im Großen Musikvereinssaal wider.
Zwar sind die zwei Filetstücke mit Schuberts f-Moll-Fantasie für vier Hände und Rachmaninows Symphonischen Tänzen op. 45 (in der Fassung für zwei Klaviere) populäre Werke der Klavierliteratur. In einem Abstand von mehr als 100 Jahren komponiert, stehen sie am Eingang und am Ende der Romantik (wie sein Kollege Richard Strauss verstand es Sergej Rachmaninow, diese Musikepoche bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu prolongieren).
Doch um Schubert und Rachmaninow herum haben die beiden etliche kürzere Stücke von zeitgenössischen Komponisten gruppiert, die vielfältiger nicht sein könnten: Luciano Berios Encore „Wasserklavier“ ist von lichter Zartheit: sempre ppp, sempre lontano. Das dritte von György Ligetis Drei Stücken für zwei Klaviere fesselt mit sanften Kaskaden, die sich bis zum fünffachen (!) forte steigern, um sich danach im vierfachen piano zu verlieren (perdendosi al niente). Bei Dave Brubecks Fugue wird es dann kurz jazzig.
Von Conclon Nancarrows sechster Etüde – ursprünglich für Lochkartenklavier geschrieben – hat der berühmte Komponist (und Pianist) Thomas Adès eine Fassung für zwei Klaviere geschrieben. Diese wird ebenso gespielt wie John Adams’ „Hallelujah Junction“: Im perkussiv geprägten Werk verschieben sich rhythmische Muster unmerklich. Es ist laut Anweisung des Komponisten „brilliant, energetic, resonant“ vorzutragen – das wird dem pianistischen Power-Couple Ólafsson und Wang zweifelsohne gelingen. Nach Rachmaninows Showpiece, den „Symphonischen Tänzen“, bildet Arvo Pärts „Hymn to a great city“ den ruhigen Ausklang des Abends.
Sie wolle eine „forschende, neugierige und abenteuerlustige Künstlerin“ sein, hat Yuja Wang einmal klargestellt. Jedes Leben habe eine Aufgabe: Bäume müssten Früchte tragen, Menschen sollten kreativ tätig sein. Bei ihren Auftritten gehe es nicht um sie, „es geht um etwas Größeres“.
Víkingur Ólafsson versucht nach eigenen Angaben sowieso, jedes Konzert so zu spielen, als wäre es sein Debüt, „als würde mein Leben davon abhängen“. Dabei hat sich der Isländer spätestens seit seiner Welttournee mit Bachs „Goldberg-Variationen“ im Kreis der global akklamierten Pianisten etabliert. So widmet ihm die Gesellschaft der Musikfreunde in der Saison 2024/25 einen Fokus: Gleich zur Saisoneröffnung wird Ólafsson mit dem Cleveland Orchestra und Franz Welser-Möst Schumanns wundervolles Klavierkonzert interpretieren (7. September). Und mit dem London Philharmonic Orchestra und Edward Gardner gibt er zwei Monate später Brahms’ hochdramatisches Erstes Klavierkonzert (9. November).
„Ich will nicht immer Solistin sein“, hat Yuja Wang schon vor einiger Zeit angemerkt. „Man ist immer allein auf der Bühne. Auch wenn man mit Orchester spielt, ist man eigentlich alleine, weil man nicht richtig dazugehört.“ Kammermusik hingegen, das sei Musikgenuss und pure Freude: „Man spielt mit Freunden und hat Spaß! Wir unterhalten uns miteinander, jeder auf seinem Instrument.“ Man wagt wohl nicht viel, wenn man prophezeit, dass die Konversation der beiden gegensätzlichen Künstler für das Publikum zu einem spannenden und auch unterhaltsamen Erlebnis werden wird. Wenn Planet Ólafsson auf Planet Wang trifft, darf wohl überirdischer Musikgenuss erwartet werden.
Mittwoch, 23. Oktober 2024
Víkingur Ólafsson | Klavier
Yuja Wang | Klavier