Neustart in Dresden: Gastspiel der Sächsischen Staatskapelle
Von Walter Weidringer
02.10.2024
„In mir paukt und trompetet es seit einiger Zeit sehr (Trombe in C), ich weiß nicht, was daraus werden wird“: Mit so launigen Worten kündigte Robert Schumann im September 1845 seinem Freund Felix Mendelssohn jene Symphonie in C-Dur an, die dann als seine Zweite veröffentlicht werden sollte. Schumanns Zeilen verraten freilich nicht, dass er mit der Komposition dieses Werkes eine lange und sehr ernste Schaffenskrise hinter sich lassen konnte. Depressionen und Angstzustände hatten ihm zuvor die Arbeit unmöglich gemacht, er musste auch die Redaktion der „Neuen Zeitschrift für Musik“ zurücklegen – und ein totaler gesundheitlicher Zusammenbruch blieb nicht aus.
Was geschehen war? Roberts junge Ehe mit Clara Wieck, die erst gegen einen langen, zähen Widerstand vonseiten ihres Vaters hatte gerichtlich durchgesetzt werden müssen, war in eine erste Krise geraten. Man stelle sich vor: Hier ein ehrgeiziger und eigenwilliger Komponist; hochsensibel, was Erfolge, Rückschläge und nicht zuletzt eine für heutige Begriffe absonderlich wirkende Männlichkeitsehre anlangt. Und an seiner Seite eine neun Jahre jüngere Frau, Komponistin und auch Pianistin, die den Gatten am Klavier eindeutig und im wahrsten Sinne überflügelte, weil er sich schon in jungen Jahren eine Fingerlähmung zugezogen hatte, er sozusagen auf sie als authentische Interpretin angewiesen war – und weil ihre Auftritte den größeren Teil des Familieneinkommens ermöglichten. Und dazwischen die Vorstellung eines harmonischen Familienlebens …
Wenn dann er die Hauptaufgabe der Gattin in Haushalt und Mutterschaft sieht und sie in seiner Anwesenheit nicht üben soll, um seine Konzentration aufs Komponieren nicht zu beeinträchtigen, ist das nicht nur meilenweit von dem entfernt, was wir uns heute unter einer Partnerschaft vorstellen, sondern barg das auch schon damals erhebliches Konfliktpotenzial. Als das Paar sich von Februar bis Mai 1844 auf Russland-Tournee bis St. Petersburg und Moskau befand, konnte Robert nur schwer verwinden, immer wieder als unbedeutendes Anhängsel seiner umjubelten Frau wahrgenommen zu werden. Wie sehr seine Eifersucht und die Verstimmungen bereits mit seiner späteren ernsten Erkrankung in Verbindung standen, ist freilich nicht mehr zu klären. Jedenfalls waren die psychischen Folgen gravierend – zumal auch in Leipzig ein Rückschlag einzustecken war: Denn nicht Schumann, sondern der Freund und Kollege Niels Wilhelm Gade wurde neben Mendelssohn ans Kapellmeisterpult des Leipziger Gewandhauses berufen.
Mit Schumanns schon in Dresden entstandener Zweiter Symphonie, aber auch seinem notorisch unterschätzten Violinkonzert, in dem Frank Peter Zimmermann als Solist zu erleben ist, gastieren die Dresdner nun erstmals mit Daniele Gatti im Großen Musikvereinssaal.
Eine Genesungsreise führte die Schumanns im Herbst 1844 nach Dresden. Aus dem lediglich für einige Wochen geplanten Aufenthalt wurden Monate, bis der Entschluss fiel, Leipzig dauerhaft den Rücken zu kehren und nach Dresden überzusiedeln – was wir heute einen Neustart nennen würden. Der Umzug der Familie (mit den in Leipzig geborenen Töchtern Marie und Luise, Clara war zudem wieder schwanger) ging bei Robert Schumann einher mit einer veränderten, vom Klavier losgelösten Arbeitsweise: „Vom Jahre 1845 an, wo ich anfing, im Kopf zu erfinden und auszuarbeiten, hat sich eine ganz andere Art zu komponieren zu entwickeln begonnen“, bemerkte er rückblickend. Er studierte Bach’sche Fugen und vertiefte sich in den Kontrapunkt. „Die Symphonie schrieb ich im Dezember 1845 noch halb krank; mir ist’s, als müsste man ihr dies anhören. Erst im letzten Satz fing ich wieder an, mich zu fühlen, wirklich wurde ich auch nach Beendigung des ganzen Werkes wieder wohler. Sonst aber, wie gesagt, erinnert sie mich an eine dunkle Zeit.“ Die Musik dieser Zweiten Symphonie spiegelt das freilich nicht wider – wenn überhaupt, dann endet sie mit einem grandiosen Sieg des Lichts. Schumanns ehrgeiziges Unterfangen war es, Bachs Polyphonie mit Beethovens Prinzip des „per aspera ad astra“ zusammenzubringen, geeint durch Schumanns romantisches Konzept des „Poetischen“ in der Musik.
Einen Neustart wie einst Robert Schumann hat nicht nur die Sächsische Staatskapelle Dresden im Sinn, sondern auch ihr neuer Chefdirigent. Dazu gleich, doch erinnern wir uns zuvor noch an ein altes deutsches Sprichwort: Dem zufolge wird in Chemnitz das Geld erarbeitet, in Leipzig vermehrt, in Dresden ausgegeben. Das bürgerlich geprägte Handelszentrum Leipzig strebte von alters her danach, aus dem Schatten der prunkvollen königlichen Residenz Dresden treten zu können. Das Gewandhausorchester, 1743 gegründet und benannt nach seinem ersten großen Spielort, dem Messehaus der Tuchwarenhändler, ist das älteste bürgerliche Konzertensemble der Welt; die Staatskapelle Dresden hingegen kann als unter kurfürstlicher Ägide gegründetes und erhaltenes Orchester auf eine rund zweihundert Jahre längere Geschichte zurückblicken: Richard Wagner selbst hat dem verehrten Klangkörper das Epitheton „Wunderharfe“ verliehen. Carl Maria von Weber und später Wagner in Dresden, Felix Mendelssohn in Leipzig hießen die berühmtesten komponierenden Kapellmeister der jeweiligen glorreichen Geschichte.
Zeitsprung in die Gegenwart. Nun, nach zwölf prägenden Jahren mit Christian Thielemann als Chefdirigent, stand die Sächsische Staatskapelle Dresden vor einer Richtungsentscheidung, die freilich immer auch bis zu einem gewissen Grad davon abhängig ist, wer im internationalen Pultstarkarussell gerade frei ist und auch zum Orchester passt. Sollte es weiter mit klarer Betonung auf dem deutschen Repertoire wie mit dem Vorgänger gehen – oder der Aufbruch in eine andere Richtung erfolgen? Man kann es durchaus als Erinnerung an die eigene Geschichte betrachten, dass das Meisterorchester jener Stadt, die gerne auch als „Elbflorenz“ oder „Florenz des Nordens“ bezeichnet wird, sich, was die Herkunft des nächsten Chefdirigenten anlangt, in südlichen Gefilden umgesehen hat. Denn schon zweimal waren italienische Maestri mit der Leitung des Orchesters betraut, wobei der ältere der beiden besonders tiefen Eindruck hinterlassen hat: Vor der kurzen Amtszeit von Fabio Luisi (2007–2010) war es nämlich insbesondere Giuseppe Sinopoli, der ab 1992 die Geschicke der Staatskapelle geprägt hat – und auch noch weiter geprägt hätte, wäre er nicht am 20. April 2001 an einem Herzinfarkt gestorben, den er während einer von ihm geleiteten Vorstellung von „Aida“ an der Deutschen Oper Berlin erlitten hatte. Sinopoli war nicht nur ein auch in Wien gefeierter Experte für das italienische Opernrepertoire gewesen, sondern gleichermaßen für die klassische Wiener Moderne von Mahler bis zur Schönberg-Schule – sowie herauf bis zur Gegenwart.
Interessant, dass die musikalischen Interessen und das künstlerische Profil des „Neuen“ diesem Vorgänger stark ähneln: Thielemanns Nachfolger ist nämlich Daniele Gatti. Und der ist in Wien ebenso wenig ein Unbekannter wie in vielen anderen Klassikmetropolen. An der Wiener Staatsoper hat der 1961 in Mailand geborene Dirigent seit seinem umjubelten Debüt mit Verdis „Simon Boccanegra“ 2002 etwa auch Mahlers Neunte Symphonie und Schönbergs „Moses und Aron“ dirigiert; im Musikverein war er dann ab 2005 regelmäßig zu Gast, als Dirigent der Wiener Philharmoniker ebenso wie am Pult der Filarmonica della Scala Mailand, des Orchestre National de France, des Gustav Mahler Jugendorchesters und des Gewandhausorchesters Leipzig. Bei den Salzburger Festspielen hat er unter anderem „Elektra“ und Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ herausgebracht, den „Parsifal“ zudem bei den Bayreuther Festspielen. Relativ kurz fiel mit zwei Saisonen seine Tätigkeit als Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouw Orchestra aus: Als ältere sexuelle Vorwürfe aufkamen, entschuldigte sich Gatti öffentlich bei den betroffenen Frauen, nach einer „konstruktiven Diskussion“ erfolgte schließlich eine „einvernehmliche“ Trennung.
An der Staatskapelle Dresden fasziniere ihn, so Gatti anlässlich seiner Präsentation als deren neuer Chef, „dieser spezifische traditionelle Klang, zum anderen auch die Tatsache, dass das Orchester kontinuierlich sowohl sinfonisches als auch Opernrepertoire spielt“. Denn: „Genau diese Mixtur ist es, durch die ein ganz eigener Zugang entsteht.“ Diese Tradition, die etwa auch die Wiener Philharmoniker verkörpern, wolle er sorgsam und pfleglich behandeln: „Von Orchestern wie der Staatskapelle kann man einiges lernen als Dirigent. Ich gehe entsprechend außerordentlich zurückhaltend vor, wenn ich den Musikern meine Vorstellung von den Dingen unterbreite.“
Mit Schumanns schon in Dresden entstandener Zweiter Symphonie, aber auch seinem notorisch unterschätzten Violinkonzert, in dem Frank Peter Zimmermann als Solist zu erleben ist, gastieren die Dresdner nun erstmals mit Daniele Gatti im Großen Musikvereinssaal. Zusammen mit „Ciel d’hiver“, der wundersamen stimmungsvollen Klangmalerei eines Winterhimmels, geschaffen von der im Vorjahr verstorbenen finnischen Komponistin Kaija Saariaho, hat sich dieser Neuanfang allemal offene Ohren verdient.
Donnerstag, 14. November 2024
Sächsische Staatskapelle Dresden
Daniele Gatti | Dirigent
Frank Peter Zimmermann | Violine