„Neugierig, ob ich’s finde: mein Vaterland“: Florian Boesch singt Kreneks „Reisebuch“
Von Albert Seitlinger
15.12.2024
Dass man am Silvesterabend in der Wiener Staatsoper „Die Fledermaus“ von Johann Strauß gibt, galt schon in den 1920er Jahren als fest verankerte Tradition. Doch am 31. Dezember des Jahres 1927 war alles anders: Da wartete das Wiener Publikum mit Spannung auf die Premiere jener Oper, die seit dem Frühjahr ganz Europa in Atem hielt. Der junge Komponist allerdings saß während der Vorstellung mit Freunden in einem Café schräg gegenüber dem Bühneneingang und wartete im Abendanzug auf einen Boten von der Oper. Der sollte ihn holen, wenn es an der Zeit war, vor den Vorhang zu treten.
Seit der Uraufführung am 10. Februar 1927 in Leipzig war Kreneks „Jonny spielt auf“, oft verfälschend als „Jazz-Oper“ apostrophiert, von einem Erfolg zum nächsten geeilt. In der Saison 1927/28 standen 421 Aufführungen in
45 unterschiedlichen Städten auf dem Programm, und auch diesmal flog Krenek der Jubel des Publikums entgegen.
Sieben Jahre waren vergangen, seit Ernst Krenek 1920 als Student der Wiener Musikakademie seinem Lehrer Franz Schreker nach Berlin gefolgt war. Allen politischen Unruhen der Weimarer Republik zum Trotz war Berlin das Zentrum einer neuen Epoche: Modernität, Fortschritt und Zeitgeist prägten das Leben der Metropole. Krenek atmete frische Luft. Im Frühjahr 1921 komponierte er sein erstes, atonales Streichquartett und landete beim Nürnberger Musikfest einen Sensationserfolg. 1923 löste die Uraufführung seiner monumentalen Zweiten Symphonie in Kassel einen Tumult aus. Jetzt galt Krenek als „Ultramodernist“, war angesehen und voller Tatendrang.
Nachdem sein „Jonny“ im Oktober 1927 auch in Berlin Begeisterung ausgelöst hatte, wurde Krenek klar, dass er auf lange Zeit hin keine Geldsorgen mehr haben würde. Einen Monat später saß er im Zug nach Wien, um sich in seiner Heimatstadt nur noch dem Komponieren zu widmen. Zunächst war er noch viel unterwegs, vor allem nach Kassel, wo er sich in die fünfzehn Jahre ältere Schauspielerin Berta Herrmann verliebt hatte. Im August 1928 heirateten die beiden in Wien – es war seine zweite Ehe nach einer nur wenige Monate währenden mit Anna, der Tochter von Alma und Gustav Mahler. Berta und Ernst fanden eine Wohnung in Hietzing nahe Schönbrunn, aber sie fanden nur schwer Anschluss in Wien. Er habe sich in die Stadt „eingeschlichen“, erzählte Krenek viele Jahrzehnte später seinem Biographen John L. Stewart. Krenek, von Grund auf schüchtern, haderte mit konservativen Strömungen in der Wiener Kulturszene, die kaum Aufführungen seiner Musik beförderte. Zum anderen eröffnete ihm die Doppelbegabung als Schriftsteller und Komponist einen besonderen Blick auf Kunst und Leben. Er wurde mit Karl Kraus bekannt und lernte Anton Webern und Alban Berg, die Schüler Arnold Schönbergs, kennen. Von Schönberg hingegen wurde er – wegen seiner tonalen Kehrtwendung im „Jonny“ – auf Distanz gehalten.
„Man muss sich vorstellen, welche Gleichzeitigkeit es in Wien in der Zwischenkriegszeit gab: Die Speerspitzen von Wissenschaft, Kultur, Psychoanalyse und Wirtschaft mit Joseph Schumpeter, die Komponisten der Neuen Wiener Schule – das alles konzentrierte sich in Wien. 1929 begann der Nationalismus und Antisemitismus immer stärker zu werden. Das muss eine Zeit gewesen sein, wo jemand, der wie Krenek nicht mit Scheuklappen durch die Welt geht, sich in einer ungeheuren Zerrissenheit befand, die auch eine starke Dynamik hatte.“ Für Florian Boesch ist das im Sommer 1929 entstandene „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“ ein einzigartiges Dokument dieser Zeit: Die 20 Lieder, für die Krenek selbst den Text verfasst hat, sind „ganz differenzierte Betrachtungen über Österreich, das Österreicher-Sein, die Zwischenkriegszeit und die Zukunft. Krenek nimmt prophetisch Dinge vorweg, die 1929 gar nicht vorstellbar waren.“
Eine charmante Pointe ist, dass Krenek diese Reise tatsächlich gemacht hat. Noch im Hochgefühl des Erfolges von „Jonny“ entschied er im Frühling 1929, „daß es für mich an der Zeit sei, das Land zu erkunden, zu dem ich eine eigenartige und leidenschaftliche Liebe entwickelt hatte“, erinnerte er sich in seiner Autobiographie „Im Atem der Zeit“. Gemeinsam mit seinen Eltern und Berta reiste er mit Zug, Auto, Postbus und Bergbahn quer durch das Land – vom „bekannten Wallfahrtsort Mariazell“ durch das Gesäuse nach Admont, weiter nach Bad Aussee bis nach Hallstatt, „die geisterhafte, melancholische Stadt an den Ufern eines stillen, schwarzen Sees“. Von dort fuhren die Kreneks über Abtenau, Radstadt und den Tauernpass nach Mauterndorf und über den Katschberg ins Kärntner Gmünd und Millstatt bis nach Heiligenblut am Fuße des Großglockners und schließlich nach Lienz, die Hauptstadt von Osttirol. „Es war eine der schönsten Unternehmungen meines Lebens“, notierte Krenek.
Schon während der Reise fertigte Ernst Krenek literarische Notizen an. Die Komposition erfolgte in nur zwanzig Tagen im Juli. Die Beschreibung der einzelnen Reisebilder wird durch ironische und nachdenkliche Reflexionen unterbrochen. In „Politik“ findet er mahnende Worte: „Sind wir gestraft für uns’re Sünden mit unheilbarem Irrsinn? Habt ihr denn ganz verlernt zu leben um des Lebenswillen?“ Und wird dann prophetisch: „Ihr Brüder schickt den blutigen Hanswurst endlich heim, beendet die Todesmaskerade, denn es ist genug jetzt!“ Dieser Satz beziehe sich auf Ernst Rüdiger Starhemberg, den Führer der Heimwehr, schreibt Krenek in seinen Lebenserinnerungen. Aber wer möchte im Rückblick nicht schon Hitler am Horizont erkennen?
Mitunter sind die Aussichten des „Reisebuchs“ amüsant und humorvoll. In „Auf und ab“ schreibt Krenek: Sie „photographieren sich und dahinter auch wohl einen Berg und sehen nichts, weil sie Ansichtskarten schreiben müssen.“ Das ist die „Vorwegnahme des Selfies, der Kategorie Instagram im eigenen Erleben und im Erleben der Umgebung“, betont Florian Boesch. „Er beschwert sich schon 1929 über die Auswüchse des Tourismus. Stellen Sie sich diesen Menschen heute in Kitzbühel oder sonst wo vor – unfassbar.“
„Zwanzig sentimentale, ironische und philosophische Skizzen im Sinne von Schuberts Winterreise“ nennt Krenek sein „Reisebuch“, das er spürbar unter Eindruck seines eigenen Schubert-Verständnisses komponiert hat. Das Lied „Unser Wein“ ist Schubert gewidmet. „Für mich“, so Boesch, „gibt es einen deutlichen Schubert-Verweis im Lied ,Heimweh‘. Da kommt der Satz vor: ,Das weht mich an, wenn ich durch ihre Straßen gehe, dort, wo die niederen gelben Häuser sind. In dem alten Hof sehe ich durch das grüne Tor den Lindenbaum.‘ Wenn Krenek den Schubert meint, dann beschreibt er das Biedermeier, eine Zeit, in der die ganz große Schaffenskraft bei Schubert und den Dichtern lag, in einer Zeit der Zensur unter Metternich. Und nun dieser Blick aus der Position zwischen den Kriegen, mit einem klaren Bewusstsein über die Schwierigkeit der österreichischen Identität nach dem Verlust des Großreichs, der großen Sehnsucht nach dem Süden und dem Verlust von Triest. Da fragt Krenek, worauf wir uns zurückbesinnen können, wenn wir die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und die sich anbahnende Katastrophe des Nationalsozialismus sehen. Wohin schauen wir? Und dann schaut er ins Biedermeier zu Schubert.“
„Ich bin ein Textsänger“, sagt Florian Boesch auch mit Bezug zu Krenek. „Mein Element ist es, wenn eine Paarung von Text und Musik etwas ganz Außergewöhnliches ergibt.
„Beim ‚Reisebuch‘ von Krenek ist diese Gleichwertigkeit von Text und Musik so außergewöhnlich herausragend gegeben wie kaum in einem Liederzyklus des 20. Jahrhunderts.“
Schon die Wiener Aufführungen im Jänner 1928 wurden von Unruhen nationalsozialistischer Aktivisten gestört, und in München kam es 1929 zu öffentlichen Protesten. Als die Nationalsozialisten im Mai 1938 in Düsseldorf die Ausstellung „Entartete Musik“ eröffneten, musste ein Poster des „Jonny“ mit dem saxophonspielenden schwarzen Musiker und einem Davidstern für das Plakat herhalten. Als Hitler am 12. März 1938 in Österreich einmarschierte, rettete Krenek ein Zufall vor dem Schlimmsten: Er war zusammen mit Berta soeben von einer Amerika-Reise zurückkommend in Le Havre gelandet. Über Paris fuhren die beiden nach Brüssel, um am 12. März an einer Aufführung des „Reisebuchs aus den österreichischen Alpen“ teilzunehmen. Wäre Krenek an diesem 12. März in Wien gewesen, er wäre wohl sofort verhaftet worden.
Freitag, 17. Jänner 2025
Florian Boesch | Bariton
Malcolm Martineau | Klavier
Ernst Krenek
Reisebuch aus den österreichischen Alpen. Ein Liederzyklus