„Ich wollte dieser Musik den Weihrauch nehmen“: Franz Welser-Möst und Anton Bruckner
Von Peter Grubmüller
12.07.2024
Als Anton Bruckner in Ansfelden geboren wurde, war es ein landwirtschaftliches Dorf mit rund 300 Einwohnern. Warum war diese Gegend eine gute Umgebung für die Entwicklung eines musikalischen Talents?
Das Genie fällt hin, wo es will. Keine Frage, dass es sich auch in so einem Dorf entwickeln kann. Und natürlich hat diese ländliche Umgebung seine Musik geprägt. Genauso wie das katholische Umfeld im Stift St. Florian. In der Gegenwart neigen wir dazu, das Genie mit dem Menschen gleichzusetzen. Da muss man vorsichtig sein.
Inwiefern?
Bruckner steht mit einem Bein in der barocken Tradition. Das mag auch die Ursache alles Widersprüchlichen bei ihm sein. Bis zu Joseph Haydn hieß es ja, dass alles Tun der Verherrlichung Gottes diene. Also steckt Bruckner in diesem Zwiespalt, weil sein verehrter Richard Wagner nichts mehr für die Ehre Gottes komponiert hat. Das ging so weit, dass das Genie Wagner meinte, auch die Welt neu zu erfinden. In Bruckners Kompositionen taucht alles auf, was er musikalisch aufgesammelt hat – von Ländler-Geigen bis zu Blechbläser-Fanfaren und sakralen Einflüssen.
Wie hat sich Ihr persönlicher Zugang zu Bruckners Musik geöffnet?
Ich muss in der vierten Volksschulklasse gewesen sein, als mein Erleuchtungserlebnis stattfand: Eine gute Freundin meiner Mutter war Klavierlehrerin, sie hat mir eine Langspielplatte der Zweiten Symphonie Bruckners geliehen. Volkmar Andreae hat dirigiert. Also hab’ ich die Platte aufgelegt und drei Wochen lang jeden Tag nach der Schule mit voller Lautstärke gehört. Nach rund drei Wochen hat meine Mutter gesagt: „Wir kennen jetzt das Stück!“ Sie sehen, meine Bruckner-Begeisterung geht ziemlich weit zurück.
Es heißt, speziell Bruckner erschließe sich dem Zuhörer in unterschiedlichen Lebensetappen jeweils anders. Wie war das bei Ihnen?
Wir haben ja im Linzer Stifter-Gymnasium Bruckners Motetten rauf- und runtergesungen. „Locus iste“ stand quasi jede Woche auf dem Speiseplan. Dann kam die d-Moll-Messe, bei der man mitgespielt oder mitgesungen hat. Und es muss 1984 gewesen sein, als mein Lehrer, der Komponist Balduin Sulzer, gesagt hat, dass beim Jeunesse Orchester, das ich damals geleitet hab’, eine Bruckner-Symphonie her muss. Und wenn, dann gleich die Fünfte – also wirklich ein komplexes Ding.
Wie haben Sie sich als junger Dirigent darauf vorbereitet?
Ich hab’ mir alle verfügbaren Aufnahmen angehört. Mein eigener Zugang zu dieser Musik hat sich dann in der zweiten Hälfte der 80er, Anfang der 90er Jahre entwickelt: Mehr und mehr wollte ich dieser Musik den Weihrauch nehmen. Ich erinnere mich, dass, als ich Ende der 80er Jahre einen Platten-Exklusivvertrag bekommen hatte, eine Gesamtaufnahme aller Bruckner-Symphonien gewünscht war. Und ich habe gesagt: Nein, kommt nicht in Frage.
„Ich erlebe Spiritualität in einem fort über Musik. Ich denke, das funktioniert jedoch nur, wenn man sich selbst zurücknimmt.“ – Franz-Welser Möst
Warum haben Sie abgelehnt?
Mir war das suspekt. Wenn schon eine Aufnahme, dann deswegen, weil es eine Rarität ist – oder weil ich etwas Spezielles über dieses Werk zu sagen habe. Es war dann eine Live-Aufnahme der Fünften mit dem London Philharmonic Orchestra, die wir veröffentlicht haben. Noch heute kann ich mich gut an die Überschrift einer damaligen Kritik erinnern: „Ein Ritt durchs wilde St. Florian“ (lacht).
Haben Sie diese Überschrift als Kompliment empfunden?
Ja! Weil es für mich der Beweis war, dass ich den Weihrauch weggenommen hatte.
Sind Sie religiös?
Das hat sich in meinem Leben schon so oft geändert, dass ich darauf gar keine Antwort geben kann.
In welchem Zustand der religiösen Veränderung befinden Sie sich aktuell?
Es ist ja bekannt, dass ich in einem sehr katholischen Haushalt aufgewachsen bin. Nach meinem schweren Autounfall im Jahr 1978 hab’ ich das alles in Frage gestellt und mich mit anderen Philosophien und Religionen beschäftigt: von Buddhismus über Hinduismus bis zu allen möglichen Strömungen. Ich möchte es so sagen: Ich erlebe Spiritualität in einem fort über Musik. Ich denke, das funktioniert jedoch nur, wenn man sich selbst zurücknimmt.
Wir neigen in Österreich dazu, maßgebliche Protagonisten in verschiedenen Bereichen rasch als „weltberühmt in Österreich“ auszurufen. Wie wird Anton Bruckner in den USA rezipiert?
Anton Bruckner zählt in vielen Ländern nach wie vor nicht zu den populären Komponisten. Sofern eine tolle Aufführung stattfindet – wir haben im vergangenen März mit den Wiener Philharmonikern in New York Bruckners Neunte gespielt –, wird das dann aber sehr wohl wahrgenommen und auch heftig akklamiert. Vermutlich ist es wie bei Schubert, dass sich viele mit dieser sehr spezifischen musikalischen Sprache schwertun.
Liegt das an der vermeintlichen Sperrigkeit dieser Musik, oder liegt dem ein Bildungsthema zugrunde?
Es ist eindeutig ein Bildungsthema, weil man jede Sprache erlernen kann. Ich hab’ einmal in Schanghai mit einem chinesischen Orchester Johann Strauß musiziert (lacht): Es war schwierig, aber wir sind ganz schön weit gekommen. Was ich damit sagen will: Alles ist erlernbar, man muss sich nur intensiv damit beschäftigen.
Seit 2002 stehen Sie dem Cleveland Orchestra als Chef vor, mit 2027 haben Sie das Ende dieser Zusammenarbeit selbst bestimmt. Was ist für diese künstlerische Beziehung prägend – und was planen Sie danach?
Gerade in unserer Zeit ist eine so lange Beziehungsdauer etwas Außergewöhnliches. Das geht auch nur gut, wenn man zwei Dinge beachtet. Erstens darf man das Orchester nicht langweilen – das heißt, man muss die Musikerinnen und Musiker mit Repertoire fordern, darf also nicht faul sein. Das Zweite: Man muss sich selbst zurücknehmen – es geht nie um mich, es geht immer um die Musik. Ich hab’ in Cleveland eine Philosophie formuliert, die ich natürlich vorleben muss: Zuerst kommt die Musik, dann die Institution und als Drittes der Einzelne. Nach 41 Jahren, in denen ich durchgehend Chef-Verantwortung hatte, freue ich mich darauf, frei zu sein. Nur noch das zu machen, worauf ich Lust habe.
Welches lustvolle Projekt können Sie schon verraten?
Es wird Oper mit mir nur noch in Österreich – sprich in Wien oder in Salzburg – geben. Und ich werde mit wenigen Orchestern Beziehungen pflegen: Das sind vor allem die Wiener Philharmoniker, das Bayerische Rundfunk Orchester, das Gewandhausorchester Leipzig und noch einige mehr. Vor allem werde ich aber bei der Programmierung künftig weniger Kompromisse eingehen.
The Cleveland Orchestra
Franz Welser-Möst | Dirigent
Richard Wagner
Vorspiel zur Oper „Tristan und Isolde“ und „Isoldes Liebestod“
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 4 Es-Dur, „Romantische“
The Cleveland Orchestra
Franz Welser-Möst | Dirigent
Víkingur Ólafsson | Klavier
Robert Schumann
Konzert für Klavier und Orchester a-Moll, op. 54
Peter Iljitsch Tschaikowskij
Symphonie Nr. 5 e-Moll, op. 64