Mit Brillanz durchs Jahr: Bruce Liu spielt Tschaikowskijs „Jahreszeiten“

© Christoph Koestlin
Als Gewinner des Warschauer Chopin-Wettbewerbs im Jahr 2021 eilt Bruce Liu der Ruf voraus, einer der interessantesten Pianisten seiner Generation zu sein. Nun macht er auf seinem rasanten Weg durch die Musikmetropolen mit einem Rezital im Musikverein Station, das im Zeichen der Jahreszeiten steht.

Von Georg-Albrecht Eckle

27.12.2024

Immer wieder zieht sich Musik über unser Leben in Spiegelungen des ewigen Kreislaufs. Müßig, die Menge der musikalischen Momente oder Werke aufzureihen, deren Schöpfer sich durch die Geschichte von den Jahreszeiten in ihren Eigenarten haben inspirieren lassen. Nur wenige Komponisten allerdings bedachten das ganze Jahr, alle seine Monate mit Musik, zumal auf dem Klavier. Der eine berühmte, der sich dem ganzen Jahreslauf musikalisch gestellt hat, ist kein Geringerer als Peter Iljitsch Tschaikowskij mit seinem Klavierzyklus „Die Jahreszeiten“
op. 37a von 1875/76 – ein Reigen von Miniaturen, die jeden Monat mit charakteristischen musikalischen Signaturen versehen: ob „Kamin“, „Karneval“, „Schneeglöckchen“, „Ernte“ oder „Weihnacht“ … das elegische „Herbstlied“ auf den Oktober als Inbegriff russischen Seelentones ist jedenfalls schnell berühmt geworden.

Kühn genug, dass der junge kanadische Pianist chinesischer Herkunft Bruce Liu in seinem Wiener Rezital mit russischer Klaviermusik, die voller akrobatischer Abenteuer sein kann, ganze sechzig Minuten Tschaikowskijs gesamtem „Jahreszeiten“-Zyklus widmet, halb vor, halb nach der Pause – einer Musik der Innenwerte, die zudem im Rufe steht, mehr oder weniger Hausmusik zu sein. Solche Programmgestalt scheint Methode zu haben und auf ein Netz der Verbindungen zu setzen.

Vom „Kamin“ im Jänner bis zur „Weihnacht“ im Dezember spannt sich der Bogen musikalischer Charakterstücke, die Tschaikowskij Monat für Monat schrieb.

Wer diese Stücklein Tschaikowskijs vordergründig als programmatisch malend verstehen wollte, verfehlt, was Carl Dahlhaus so zwingend gezeigt hat: dass im 19. Jahrhundert eine „von Texten, Funktionen und sogar von empirisch fasslichen Affekten losgelöste Musik“ als „Idee der absoluten Musik“ aufwächst, die eine „Ahnung des Absoluten“ in der reinen Instrumentalmusik sucht. Beethoven konstatiert in Verteidigung der vermeintlichen „Malerei“ seiner „Pastorale“, es ginge eben nicht um Darstellung der Natur, sondern um „den Ausdruck der Empfindung“ derselben im Subjekt, schließlich um das, was die poetische Idee ausmacht: die Kreuzung der beiden Linien „absolut“ und „programmatisch“. Sie gelingt Robert Schumann am deutlichsten, und er prägt die Epoche durch seine intimen Klavierstücke, unter denen wir sogar Jahreszeitliches finden, etwa „Winterszeit“ in seinem berühmten „Jugendalbum“ op. 68 von 1848, das für Tschaikowskij vorbildlich war, und sogar mit Monatsbezug „Mai, lieber Mai, bald bist du wieder da“. Immer wirkt hinter alledem doch das Lied, das mit den Jahreszeiten lebt, und es entstehen „Lieder ohne Worte“ – nicht denkbar ohne Schumanns Freund Felix Mendelssohn, der seit 1830 solche „Lieder für das Klavier“ in die Welt schickt.

© Bartek Barczyk

Wer aber, wer hat sich zuerst systematisch einem ganzen Jahreskreis gewidmet, Monat für Monat? Das Ereignis bleibt in der Familie Mendelssohn: Fanny Mendelssohn-Hensel, Felix’ ebenso wunderbar begabte Schwester, komponiert 1841 den Klavierzyklus „Das Jahr“, in dem jeder Monat sein Charakterstück bekommt, um „die Monate vorzustellen“ – wie sie selbst sagt. Kaum bekannt, weil nur dem innersten Kreis um Fanny vertraut und damals von ihr als Frau nicht direkt publizierbar, erstveröffentlicht aus dem Nachlass 1989! Ein Stück Musik wie diesen Zyklus gab es zuvor wohl kaum – und danach bekannt geworden ist eben nur Tschaikowskij, der nichts wissen konnte von Fanny Mendelssohn und seine „Jahreszeiten“ nach eigenen Worten „a la Schumann“ schrieb.

Wir verdanken übrigens Tschaikowskijs „Jahreszeiten“ einer schönen Idee des Petersburger Verlegers Nikolai Bernard. Im November 1875 bat er Tschaikowskij, als Musikbeilagen für die zwölf Jahrgangsnummern 1876 seiner Zeitschrift „Nouvelliste“ jahreszeitlich passende Klavierstücke zu komponieren – so Tschaikowskij-Kenner Thomas Kohlhase. Bernard bekam, was er wollte, zwar nicht aus Begeisterung des Komponisten, sondern weil dieser deprimiert war über Misserfolge und Geld brauchte. Jeden Monat musste man ihn daran erinnern, das Monatsstück zu schreiben, welches dann im Druck vom Verleger mit poetischen Versen versehen wurde – aber erst war freilich die Musik da, die musikalische Signatur der „Jahreszeiten“, die gewissermaßen auch Idee des gesamten Programmes von Bruce Liu sein möchte, und das auch in ihrer Verbindung mit zwei enormen russischen Sonatenkomplexen.

Nicht ohne – allerdings nun hochvirtuos – Mendelssohns berühmtes Scherzo aus der Musik zu Shakespeares „Sommernachstraum“ in der Klavierversion eines anderen russischen Meisterkomponisten als Intermezzo zu bieten: der Pianistenlegende Rachmaninow. Nach Tschaikowskijs Sommermonaten im Programm wirkt das Scherzo wie ein sommerlich-musikalisches Lächeln, das uns in die Traumsphäre entführt, in der sich Skrjabins folgende Vierte Klaviersonate op. 30 von 1903 bewegt; denn die ist der größte Sonderling mit ihren ganzen acht Minuten Dauer, zweisätzig und sich doch durch Attacca-Übergang von einem träumerisch reflektierenden Moment zu rasender, jenseitig triumphaler Phase steigernd: eine poetische Explosion, die der Komponist „Prestissimo volante“ überschreibt, als gelte es den Abflug von dieser Erde zu vollziehen – wobei die Chiffre „Flug“ die kosmische Philosophie dieses Meisters überhaupt bestimmt. Worüber er auch noch ein programmatisches Gedicht geschrieben und seiner Vierten Sonate beigegeben hat!

Im zweiten Teil von Bruce Lius Rezital läuft das zweite halbe Jahr der „Jahreszeiten“, Herbst und Winter, zu auf die Siebte Sonate op. 83 von Prokofjew, und das macht tiefen Sinn: Der Kreislauf der Natur wird konfrontiert mit einer Musik, die den Missbrauch dieser Natur durch Krieg anklagt, nämlich mit der 1942 gelebten Zeitgeschichte: Die Siebte ist eine der sogenannten „Kriegssonaten“ des Komponisten. Hier hat die politische Geschichte das Programm bestimmt, an ihr zerbirst geradezu die poetische Idee und macht zwanghaft diese Musik radikal absolut – weil sie emotional nur noch den geopferten Menschen an sich gehört. Der erste der drei Sätze, „Allegro inquieto“, meint den Krieg als Drama schicksalhaft mit seinem „Klopfmotiv“, der letzte, „Precipitato“, schreit – und das in Gestalt einer Toccata – den ganzen Kriegswahn mit voller Tastenbrutalität in vernichtendem Dur heraus, was das Schicksal des Komponisten zwischen Anpassung an die stalinistische Doktrin und Widerstand zeichnet – fatal, dass er 1943 für diese Sonate den Stalinpreis erhält! Der zweite Satz ist das Herzstück, das um die letzten Reste menschlicher Wärme als „Andante caloroso“ gegen das Rad der Geschichte kämpft. Damit kommt Bruce Lius Programm recht eigentlich zu sich: denn hier dürfte Prokofjew gar – wie der Tschaikowskij der „Jahreszeiten“ – Schumann im Ohr gehabt haben! Eines ausgerechnet von dessen Eichendorff-Liedern, aus tiefdeutschem Gemüt, klingt verfremdet an im E-Dur-Idyll dieses erschütternden Prokofjew-Satzes – tragisch genug: „Ich kann wohl manchmal singen, als ob ich fröhlich sei“ (op. 39/9, „Wehmut“).

Mittwoch, 29. Jänner 2025

Bruce Liu | Klavier

Peter Iljitsch Tschaikowskij
Die Jahreszeiten. Zwölf Charakterstücke, op. 37a
Felix Mendelssohn Bartholdy
Scherzo aus der Musik zu „Ein Sommernachtstraum“
(arrangiert von Sergej Rachmaninow)
Alexander Skrjabin
Sonate Nr. 4 Fis-Dur, op. 30
Sergej Prokofjew
Sonate Nr. 7 B-Dur, op. 83

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