Mit allen Sinnen über die Ohren hinaus: Clara Iannotta
Von Tamara Štajner
27.09.2024
„Während meiner Kindheit lernte ich, wie Dinge und Materialien funktionieren“, erzählt Clara Iannotta. „Anfangs machte ich dem Vater alles nach, bald aber begriff ich, dass ich nicht bloß nachbauen, sondern auch Eigenes schaffen kann.“ Ein Kabelmännchen sollte es damals werden, denn ihr Vater, ein Architekt süditalienischer Herkunft, der auch das eigene Wohnhaus entworfen hatte, untersagte den Umgang mit handelsüblichem Spielzeug. Stattdessen ermutigte er seine vier Kinder, erfinderisch zu sein.
Während die 1983 in Rom geborene Clara Iannotta also mit sämtlichen Dingen, die sie im Elternhaus vorfand, experimentierte – ähnlich wie sie Jahre später mit allem, was Klang erzeugte, einen spielerischen Umgang pflegte –, fütterten ihre Großeltern die Hühner und Kaninchen im Garten, hegten die Gemüsebeete und pflückten Früchte von den Obstbäumen: „Nein, nein, es war nicht glamourös bei uns. Wir hatten wenig Geld, aber mir waren meine Frankenstein-Toys lieber als das fertige Spielzeug. Vater wollte uns eine strenge Arbeitsethik einbläuen – und ich bin Workaholic. Es hat also funktioniert! Fernsehen war kaum erlaubt – er baute sogar einen Timer ein, sodass sich das Gerät nach einer Stunde ausschaltete. Aber wir konnten es hacken!“, lacht die Komponistin vor dem Hintergrund ihrer Wohnung in Berlin, jener Stadt, die sie nach dem Kompositionsstudium am Conservatorio di Milano bei Alessandro Solbiati, am Conservatoire National Supérieur de Paris bei Frédéric Durieux und schließlich nach der Promotion an der Harvard University bei Chaya Czernowin als ihr Zuhause wählte.
„Meine Mutter hatte eine unfassbare Fantasie. Sie glaubte an unsere Träume. Ihretwegen schauten wir uns am ersten Jänner immer das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker im Fernsehen an. Mit sechs hörte ich ein Flötensolo und zeigte auf die Bildröhre: Hier das – das will ich spielen! Mutter sagte einfach: Klar, das kannst du!“ Jahre später legte ihr einer ihrer Lehrer nahe, dass ein zusätzliches Kompositionsstudium von Vorteil wäre. So wurde zwar eine ausgezeichnete Flötistin geopfert, aber eine brillante Komponistin geboren. Aufträge des Quatour Diotima,
des Arditti Quartet, des Ensemble Intercontemporain oder des Klangforum Wien folgten, um nur wenige zu nennen. Ihre Porträt-CDs „A Failed Entertainment“, „Moult“ und „Earthing“ wurden mit Plätzen auf der Bestenliste und Preisen der deutschen Schallplattenkritik bedacht.
„Die wichtigste Lektion lernte ich durch die Krankheit meiner Mutter: die Lektion im Hören.“ Liebe und Schmerz gleichermaßen sind in Iannottas Stimme zu hören, wenn sie von ihrer 2023 an Krebs verstorbenen Mutter erzählt. In einem gewissen Stadium der Krankheit verstummte die Mutter, doch sie kämpfte sich zurück ins Sprechen. „Es war allerdings schwer, sie zu verstehen. Die Ohren reichten nicht mehr aus, ich musste ihr genau zusehen – mit ganzem Körper zuhören.“ Iannottas Kompositionen, die oft zwischen Geräuschen, unkonventionellen Spieltechniken und Klangquellen sowie Elektronik changieren, fordern das Publikum ebenso auf, alle Sinne zu nutzen, um die immersiven Klangatmosphären wahrzunehmen: „Bei der Weltpremiere von ‚Moult‘ saß ich hinten im Saal, und als das Stück vorbei war, atmete ein Mann vor mir tief aus, als hätte er die ganze Zeit über die Luft angehalten. Ich teile durch den Klang meine schlimmsten Erfahrungen mit, es ist also in Ordnung, wenn einem dabei unbehaglich wird.“
Am 31. Oktober wird „the purple fuchsia bled upon the ground“ (2023–2024) für Klavier und Orchester in Kooperation mit Wien Modern im Goldenen Saal als österreichische Erstaufführung zu hören sein – mit Pierre-Laurent Aimard als Solist. Das Stück ist Clara Iannottas Abschied von der Mutter: „Gewidmet meiner Mutter, die jeden Tag fehlt“, heißt es auf Italienisch in der Partitur. Sie lässt sich von der irischen Dichterin Dorothy Molloy (1942–2004) inspirieren – in dem Fall vom Gedicht „Burial“ (dt. Beerdigung): „I made a little coffin for my womb“ (dt. „Ich habe einen kleinen Sarg für meine Gebärmutter gemacht“). „Die Gebärmutter ist etwas, das blutet“, sagt Iannotta, „das Leben entstehen lässt. Der Verlust der eigenen Mutter ist ein fundamentaler Verlust – ich wollte die Musik bluten lassen. Das Klavier wird fortwährend vom Orchester übertönt – wie die Erde, die auf den Sarg fällt.“
Bevor sie 2018 den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung und den Hindemith-Preis erhielt, geriet sie 2014 in eine Schaffenskrise, die elf Monate anhielt. „Da sagte eine meiner Mentor:innen, Rebecca Saunders: Unter deiner Musik wartet ein Monster, lass es raus!“ So entstand 2015 das Werk „Troglodyte Angels Clank By“ für Ensemble (2015) – am 3. November im Brahms-Saal zu hören. „Es war das erste Stück nach der Krise, für mich ein sehr wichtiges Stück.“ Hier wird ein Schrei porträtiert, der allerdings nicht laut ist, doch voller Intensität, Energie und Klangpotenzial. Auch „dead wasps in the jam jar (iii)“ für präpariertes Streichquartett und Sinustöne (2017) sowie „Earthing – dead wasps (obituary)“ für präpariertes Streichquartett, Transducer und Elektronik (2019) stehen auf dem Programm.
„Für manche Menschen sind die Erinnerungen mit Geruch oder Geschmack verbunden, für mich ist es Klang.“
Clara Iannotta
Als 2020 bei Clara Iannotta selbst Krebs diagnostiziert wurde, riss der rote Faden ihrer Arbeit. Musik ist immerfort das Medium, durch welches sie die Finsternis und Abgründe ihres Geistes zu verstehen versucht. „Für manche Menschen sind die Erinnerungen mit Geruch oder Geschmack verbunden, für mich ist es Klang: Meine Erinnerungen sind in Klängen gespeichert. So versuchte ich die Strahlentherapie, die mit allen möglichen Geräuschen verbunden ist, als Klangerlebnis zu erforschen. Es wurde eine Therapiesequenz, basierend auf meinem Krebs, gebildet. Jeden Tag dieselbe Sequenz – ich konnte die Tonhöhen erkennen und lernte sie.“
Diese Sequenz, die sie später in ihrer Arbeit einsetzte, kann sie immer noch nachsingen. „Echo from afar (ii)“ für sechs Instrumente und Elektronik (2022) ist das dritte im Zyklus von fünf Stücken, die sie nach der Krebsbehandlung schrieb, und wird am 4. November im Gläsernen Saal aufgeführt. Molloys Gedicht „My heart lives in my chest“, welches das Gefühl der Leere und der Fremdheit in eigener Haut thematisiert, ist das Motto dieses Werkes. „Die Strahlentherapie verändert die DNA. Nach der Krebsbehandlung war ich nicht mehr derselbe Mensch und konnte also nicht dieselbe Musik schreiben. Ich fühlte mich ein wenig blind und ein wenig taub – ‚Echo from afar (ii)‘ portraitiert diese unsichtbare Kraft, die einen von innen verändert.“
In ihrer kuratorischen Arbeit als künstlerische Leiterin der Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik, als Mitglied des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung sowie als künstlerische Leiterin für das Musikprogramm des Festival d’Automne à Paris setzt sie sich täglich dafür ein, dass das Feld der Neuen Musik inklusiver und diverser wird. Ebenso gehört das Fördern jüngerer Generationen zu ihren Prioritäten, beispielsweise wurden Uraufführungen von drei Studierenden aus Iannottas Kompositionsklasse an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ins Konzertprogramm aufgenommen. Aber nicht nur die Professur, die sie seit 2023 innehat, verbindet sie mit der Donaumetropole, sondern auch die unsterbliche Liebe zum Kaffee, den sie jeden Morgen, nachdem sie um fünf Uhr aufsteht – manchmal gar um vier – zubereitet: „Ich liebe Kaffee, ich weiß so viel über Kaffee, ich habe sogar meine eigene Kaffeestation an der Musikuni!“
Auch der Wiener Musikverein ist einer von Clara Iannottas Herzensorten: „Ich wünschte, ich hätte noch vor dem Tod meiner Mutter erfahren, ich würde ‚Künstlerin im Fokus‘ sein. Sie wäre unglaublich stolz auf mich gewesen.“
Ein „Schallbild“ – das ist für Komponistin Clara Iannotta oft der Ausgangspunkt einer Arbeit. Verschaffen Sie sich einen Eindruck davon, wenn die Werke der „Komponistin im Fokus“ im Musikverein aufgeführt werden: