In Entenhausen gibt es keine Kirche: Michael Köhlmeier auf den Spuren von Donald Duck und Co

© Peter-Andreas Hassiepen
Nichts als Schund? Ganz gewiss nicht. Der große Erzähler Michael Köhlmeier und seine facettenreiche Liebe zu Bildgeschichten, Comics und Cartoons.

Von Julia Kospach

29.07.2024

In seiner Wiener Wohnung, die ebenso bunt und überbordend voll ist wie seine Erzählwelten, erzählt der Schriftsteller Michael Köhlmeier bei Keksen, Kaffee und Kräutertee Geschichten. Erzählt von den vielen Buchhandlungen im mittelalterlich geprägten Marburg, wo er studiert hat. Erzählt, wie das rare Gitarrenmodell, das neben ihm auf dem Boden steht, in seinen Besitz kam. Erzählt von dem farbigen Holztisch hier im Wohnzimmer, den er gebaut und bemalt hat. Und von der weiß lackierten Zugpendel-Lampenkonstruktion darüber, einem Jean-Tinguely-artigen Gebilde aus Fahrradfelgen und anderen Metallteilen, das er seiner Frau Monika Helfer einmal nach einem längeren Auslandsaufenthalt zum Heimkehrgeschenk gemacht hat. Erzählt vom Musizieren und vom Malen. Springt auf und zu seinem Schreibtisch unter der breiten Fensterfront, durch die der Blick hinüber auf die andere Naschmarktseite mit ihren prachtvollen Jugendstilfassaden geht, und verifiziert ein Ingeborg-Bachmann-Zitat. Die Wahrheit ist dem Menschen nämlich – anders als von der Kärntner Dichterin propagiert – nicht zumutbar, findet Michael Köhlmeier, zumindest sicher nicht immer. Dann erwähnt er Dostojewskis Raskolnikov, um an einer Romanpassage zu untermauern, dass man als Autor seinen Figuren manchmal auch um den Preis, dem Lesepublikum auf die Nerven zu gehen, treu bleiben müsse.

Michael Köhlmeier erzählt auch vom Garten seines Vorarlberger Hauses im heimatlichen Hohenems, wo er gern draußen unterm Sonnenschirm sitzt und schreibt. Das Schreiben geht dem „Geschichtenerzähler der Nation“ seit jeher leicht von der Hand, und er ist ein unermüdlicher Arbeiter. Was seinen Fleiß anlangt, steht bald Johann Sebastian Bachs Dictum, dass „wer eben so fleißig ist“, „es eben so weit bringen“ könne, im Raum, aber auch ein Hauch vom klassischen Vorarlberger-Klischee „Schaffa, schaffa, Hüsle baua“. Nur dass Michael Köhlmeiers nimmermüde Beharrlichkeit keine Häuser, sondern immer neue Erzählwelten erschafft.

Bei seinem nächsten Abend für den Musikverein, den der Schriftsteller am 1. Oktober gemeinsam mit dem Jazzpianisten, Komponisten und Bandleader Martin Gasselsberger gestaltet, wird sich alles um „Bildgeschichten, Comics & Cartoons“ und um Meilensteine ihrer Entwicklung drehen. Wie so oft bei seinen erzählerischen Auftritten vor Publikum plant Michael Köhlmeier, sich seinem Thema übers Anekdotische anzunähern. Darum kommt er auch jetzt statt auf Onkel Donald erst noch auf seinen eigenen Lieblingsonkel zu sprechen. Der war für ihn die Personifizierung jenes seltenen Charakterzugs, der auf Italienisch „sprezzatura“ heißt und für eine Mischung aus spielerischer Lässigkeit und heiterer Menschenfreundlichkeit steht; auch und gerade unter widrigen Umständen. Schon ist Köhlmeier bei der berühmten Buttertorte angelangt, die seine Mutter Paula machte und die dem Lieblingsonkel bei einem seiner Besuche – stolper, stürz! – zur Gänze auf den schicken Anzug platschte. Gebannt beobachtete der Neffe das Onkelgesicht in diesem heiklen Moment. Nicht der Anflug von Unmut zeigte sich darauf. Stattdessen steckte der Onkel einen Finger in den Buttertortenmatsch auf seinem Sakko, führte einen Batzen davon zum Mund, kostete und sprach lächelnd in Richtung der bestürzten Tortenbäckerin: „Paula, da hast du dich selbst übertroffen!“ Das ist Lebensart, zweifellos!

Zugleich führt die Buttertorten-Anekdote praktischerweise auch ungebremst hinein ins Reich von Bildgeschichte, Comic und Cartoon, wo Torten sehr viel öfter durch die Luft geworfen als gegessen werden. Allerdings wird Michael Köhlmeier im Musikverein nicht nur über Cartoon-Slapstick und -Humor sprechen. Auch nicht nur über das Wesen von Entenhausen, über Wilhelm Busch und dessen zeichnerischen Vorläufer Ludwig Grimm, über Hergés „Tim und Struppi“ und Comic-Superhelden wie Batman oder über die endgültige Erwachsenwerdung der Comics durch Art Spiegelmans bahnbrechende Holocaust-Graphic-Novel „Mouse“ aus dem Jahr 1986, sondern auch über die ehrwürdigen historisch-religiösen Vorfahren der gezeichneten Bildgeschichten: Die finden sich unter anderem in der mittelalterlichen Biblia pauperum, also der illustrierten Armenbibel. Oder in den Bilderabfolgen der Kreuzweg-Stationen oder in den seit dem Spätmittelalter auftauchenden Totentanz-Darstellungen auf Kirchenwänden, Friedhofsmauern und Buchseiten. Sie alle brachten existenzielles Gedankengut und Szenen aus dem Alten und Neuen Testament in Form von Bildgeschichten unters – oft analphabetische – Volk.

„Meine Eltern hatten beide die Zitierwut. Während meine Mutter Paula vorrangig auf Goethes ‚Faust‘ zurückgriff, zitierte mein Vater Alois auswendig aus Wilhelm Busch, besonders aus ‚Plisch und Plum‘.“ Michael Köhlmeier

© Pixabay.com

Zu manchen Zentralfiguren der Comic-Historie hat Michael Köhlmeier eine nachgerade familiär enge Beziehung. Das gilt etwa für den gleichermaßen genialen wie misanthropischen Dichter-Zeichner Wilhelm Busch (1832–1908). Dessen Reime waren im Hause Köhlmeier allgegenwärtig. „Mein Vater und meine Mutter hatten beide die Zitierwut“, erzählt er. Während Mutter Paula vorrangig auf Goethes „Faust“ zurückgriff, zitierte Vater Alois auswendig aus Wilhelm Busch, besonders aus „Plisch und Plum“. Oft unterhielten sich die Eltern anhand von Zitaten, die sie einander zuwarfen. Wenn seine Mutter in Zorn geriet, suchte sein Vater sie mit einer „Plisch und Plum“-Adaption zu beruhigen und rief ihr „Ich bitt dich, mein liebster Fittig!“ zu. Auch zu Comics des 20. Jahrhunderts gibt es reichen persönlichen Bezug. Nicht nur ist Michael Köhlmeier ein eingefleischter Bewunderer der deutschen „Mickey Mouse“- und „Donald Duck“-Übersetzerin Erika Fuchs, deren Einfluss auf den alltäglichen Sprachgebrauch des Deutschen und auf Comic-Sprachgewohnheiten gewaltig ist – „rumpel, quietsch, knall!“. Auch war eines von Michael Köhlmeiers und Monika Helfers Kindern, Sohn Lorenz, der inzwischen Maler ist, als Zehnjähriger ein „absoluter Comic-Kenner“. Als Vater und Sohn in Wien einmal innerhalb von kürzester Zeit an zwei Comicläden hintereinander vorbeikamen, sagte Lorenz den denkwürdigen Satz: „An so einem Tag glaube ich, dass es Gott gibt.“

Dass es in so einem Haushalt eine erstklassige Carl-Barks-Library geben musste, versteht sich beinah von selbst. Carl Barks? Für alle, die den Namen allen Ernstes – ächz, stöhn, kreisch! – nicht kennen: Der Mann (1901–2000) war Disneys bekanntester Comiczeichner und schuf absolut unverzichtbare Charaktere des Disney-Universums wie Dagobert Duck oder die Drillinge Tick, Trick und Track. Michael Köhlmeiers liebster Disney-Held existierte allerdings schon vor Carl Barks: die – wie er es ausdrückt – „Jahrhundertfigur Donald Duck“: „Donald ist der Pechvogel, der Antiheld, mit dem man sich identifizieren kann. Er führt einen permanenten Kampf gegen die Dinge und seine unerfüllten Hoffnungen.“ Es sei nur folgerichtig, dass Donald unter diesen Vorzeichen zu vulkanischen Tobsuchtsanfällen neige. „Er ist eine absolut realistische Figur, obwohl er eine Ente ist“, meint Köhlmeier, der außerdem beobachtet hat, dass es in Entenhausen keine Kirche, keine Liebe, keinen Sex gibt. Es gehe eigentlich nur ums Geld. „Das ist doch sehr interessant, oder?“, fragt er und zitiert abschließend noch einmal Wilhelm Busch. Ein Vers aus dessen Bildgedicht „Der Undankbare“ kommt Michael Köhlmeier „wie eine auf einen Vierzeiler gebrachte Philosophie des Existenzialismus“ vor: „Ohne Hören, ohne Sehen / Steht der Gute sinnend da; / Und er fragt, wie das geschehen. / Und warum ihm das geschah.“

Dienstag, 1. Oktober 2024

Michael Köhlmeier | Erzähler
Martin Gasselsberger | Klavier

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