Maestra neuen Typs: Joana Mallwitz
Von Isabel Herzfeld
26.04.2024
Noch vor zwanzig Jahren wäre eine wie sie kaum denkbar gewesen, so freimütig und furchtlos, selbstgewiss und selbstverständlich. Dirigentinnen der ersten Stunde wurden entweder als Paradiesvögel oder als Alibifigur betrachtet. Sie suchten noch nach ihrem persönlichen Bewegungsrepertoire, und auch Fragen des Outfits lösten sie eher zaghaft, an ihren männlichen Kollegen orientiert. Gewiss machten Simone Young, Sian Edwards oder Susanna Mälkki dann beeindruckende Karrieren – nicht ohne gönnerhafte Nebenbemerkungen. So erhielt Mälkki von ihrem eigenen Lehrer, dem legendären Jorma Panula, die wohlgemeinte Empfehlung, doch lieber „weibliche“ Musik zu spielen als allzu „männliche“. Also Debussy statt Bruckner oder Strawinsky. Zum Glück hat sich die begabte Studentin, heute gesuchte Spezialistin für Neue Musik und zunehmend im Opernfach tätig, nicht daran gehalten. Und doch fehlte die gebührende Aufmerksamkeit, wie sie seit einiger Zeit Karina Canellakis, Elim Chan, Mirga Gražinytė-Tyla oder Giedrė Šlekytė zuteil wird. Oder eben Joana Mallwitz.
Das leidige Frauenthema kann der frischgebackenen Chefdirigentin und künstlerischen Leiterin des Konzerthauses Berlin nur ein müdes Lächeln entlocken. Überhaupt lächelt sie gern und viel. Mit ihrem gewinnenden Auftreten, der herzlichen Zuwendung zu „ihren“ Musiker:innen, der schwungvollen Gestik gibt sie die Begeisterung weiter, die die Musik in ihr selbst auslöst. Ihre Ausstrahlung ist rundum positiv, pure Energie, Enthusiasmus. Obwohl in vieler Hinsicht genial, hat sie nichts vom zergrübelten, der Welt abhanden gekommenen Genie-Klischee früherer Zeiten. Und ihr Temperament ähnelt in nichts der Cholerik von Pultdespoten, die aus den Musiker:innen Höchstleistungen herauspressen. Mallwitz musiziert auf Augenhöhe, setzt auf Kommunikation, ist offen für neue Ideen. Ihr Ideal ist die Kammermusik, auch für das Orchester. Dafür probt sie wie besessen Details – „um nachher im Konzert alles wieder zu vergessen und gemeinsam die Musik zu genießen“.
Sie ist einfach die Maestra neuen Typs. Den Weg dahin ging sie äußerst zielstrebig. Schon als Heranwachsende hatte Mallwitz den Wunsch, Musikerin zu werden. Sie lernte Klavier und Geige spielen, nahm mehrmals am Wettbewerb „Jugend musiziert“ teil. Doch nachdem ihr die Eltern eine Taschenpartitur von Schuberts „Unvollendeter“ geschenkt hatten, entdeckte sie das Orchester als ihr „Instrument“. Sie hatte die Musik bis dahin noch nicht gehört, sondern erschloss sie sich rein über das Lesen. „Von da an wusste ich, dass ich mit dieser Musik mein Leben verbringen wollte.“
Bereits mit dreizehn Jahren wurde die gebürtige Hildesheimerin Frühstudentin an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Nach einem regulären Studium der Fächer Dirigieren und Klavier wurde sie mit gerade einmal 19 Jahren Korrepetitorin und Kapellmeisterin am Theater Heidelberg. Auf diese Weise konnte sie enorme Repertoirekenntnisse erwerben – oft musste sie große Opern aus dem Stand heraus, ohne viel Probenarbeit, übernehmen. Werke von Mozart und Verdi, Tschaikowskijs „Eugen Onegin“ und Richard Strauss’ „Salome“ waren darunter. Die Karriere entwickelte sich rasant: Mit 27 Jahren wurde Mallwitz als jüngste Generalmusikdirektorin ans Theater Erfurt berufen; dieselbe Funktion trat sie vier Jahre später am Staatstheater Nürnberg an. Die Zeitschrift „Opernwelt“ wählte sie 2019 zur „Dirigentin des Jahres“, eine Auszeichnung, die vor ihr Koryphäen wie Christian Thielemann oder Kirill Petrenko erhalten hatten. 2020 wurde ihr als erster Frau von den Salzburger Festspielen mit Mozarts „Così fan tutte“ eine Neuproduktion und eine ganze Aufführungsserie anvertraut – die begeisterte Kritiken erhielt. Als „ein Glück, ein Wunder, ein Fest“ bezeichnete sie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.
Joana Mallwitz musiziert auf Augenhöhe, setzt auf Kommunikation, ist offen für neue Ideen. Ihr Ideal ist die Kammermusik, auch für das Orchester.
In der deutschen Hauptstadt, deren Kulturleben sie „faszinierend“ und „spannend“ findet, hat sich Joana Mallwitz mit ihrem Mann, dem Tenor Simon Bode, und ihrem kleinen Sohn bereits gut eingelebt. Sie freut sich darüber, sich am Konzerthaus Berlin dem geliebten symphonischen Repertoire nun mit mehr Probenzeit als am Opernhaus widmen und sich ganz intensiv auf einen Klangkörper einlassen zu können. „Ich fühle, ich bin hier am richtigen Ort. Und die Chemie zwischen dem Orchester und mir hat auf Anhieb gestimmt.“ Die direkte Kommunikation beim Musizieren, das gemeinsame Atmen bei der Klangerzeugung, die funkensprühende Energie im Raum, das führt zu einer engagierten Einmütigkeit, die das Publikum spürt und honoriert. Und das Haus selbst bietet fantastische Möglichkeiten, Neues, Ungewöhnliches auszuprobieren, was der Dirigentin so sehr am Herzen liegt.
Mit dem Projekt „Mostly Mallwitz“ wurde sie von ihren neuen Gastgebern begrüßt. Mallwitz präsentierte sich hier ebenso als Moderatorin wie als Kammermusikerin, in Schuberts „Forellenquintett“. Sämtliche Räume des Konzerthauses vibrierten von Tanzmusik, Salonmusik, Jazzmusik verschiedenster Epochen und Stile, bis zum Schluss wirklich das Tanzbein geschwungen wurde. Denn Mallwitz will nicht elitär sein, sondern mit verschiedensten Menschen unterschiedlichste Musik gemeinsam erleben und sich darüber austauschen, „was sie mit uns macht“. Für sie gibt es nur „gute und schlechte Musik“. Diese Auffassung teilt sie mit dem Komponisten Kurt Weill, der in dieser Saison ganz oben auf ihrem Programm steht. Hier lässt sie an ihrer Entdeckung teilhaben, welch interessante, dichte und kontrastreiche Symphonik der Schöpfer der „Dreigroschenoper“ geschrieben hat.
Mallwitz bewundert Leonard Bernstein für „seine total intuitiv wirkende Art, Musik zu machen“, die aber ihrer Ansicht nach genaueste Vorbereitung und Planung verlangt. Genauso geht sie selbst vor. Im Konzert lässt sie dann los, wirkt völlig spontan. Bernstein ist auch Vorbild in ihrer Art der Musikvermittlung, mit der sie größere Nähe zu den Zuhörenden schaffen will. Ihre „Expeditionskonzerte“ sind Entdeckungsreisen zu großen Werken der Musikgeschichte. Zusammen mit den Musiker:innen auf der Bühne spielt Mallwitz am Klavier Motive und Harmonien an, führt auch mit Anekdoten und Hintergrundgeschichten in das Innere des Werkes. War Beethoven besoffen, als er die Siebte Symphonie schrieb? Von welchen Naturerlebnissen spricht seine „Pastorale“? Was erzählt uns die „Große C-Dur-Symphonie“ über Schuberts innere Konflikte, seine Einsamkeit und dann wieder ausgelassene Freude? Das neue Format der „Night Sessions“ ist noch wagemutiger, erforscht mit wechselnden Gästen aus Nicht-Klassik-Bereichen die Wirkung verschiedener Musikstile. Den Anfang machte Robert Henke, Pionier des Sound-Designs und der Computermusik. „Was ist überhaupt ein Rhythmus, und was macht er mit uns?“, kann da eine beherrschende Frage sein, die Klassik, Moderne oder Techno ganz unterschiedlich beantworten.
Für ihr Wien-Gastspiel kehrt Joana Mallwitz zum gewohnten Konzertformat zurück. Doch kann man sicher sein, dass sie auch mit den Wiener Symphonikern und dem Pianisten Francesco Piemontesi eine spannende Begegnung zwischen Beethoven und Hindemith inszenieren wird, in der das Drama des Künstlertums neu verhandelt wird.
Samstag, 4. Mai 2024
Sonntag, 5. Mai 2024
Wiener Symphoniker
Joana Mallwitz | Dirigentin
Francesco Piemontesi | Klavier