Lebensbejahung trotz hautnah erlebter Tyrannei: Gabriela Montero
Von Paul-Henri Campbell
13.11.2024
„Mein erstes Konzert spielte ich mit fünf Jahren in Caracas“, erzählt die venezolanische Pianistin und Komponistin Gabriela Montero im Interview. Montero schmunzelt, als sie hinzufügt: „Ich improvisierte damals schon – in meiner Kinderwiege.“ Inzwischen sind Improvisation sowie Interaktion mit dem Publikum ihr Markenzeichen geworden.
Obwohl Gabriela Monteros Familie aus Venezuela stammt, wurde ihre Mutter in den Vereinigten Staaten geboren, als die Großeltern dort im Exil lebten: „Mein Großvater war ein Intellektueller, ein Universitätsprofessor. Er war jemand, der sich für die Belange der Arbeiter einsetzte. Ironischerweise gründete er ebendiese kommunistische Partei mit, die ich heute in Gestalt des Maduro-Regimes bekämpfe.“
Im Gespräch begreift man schnell, dass die Werke der 1970 geborenen Komponistin einer intensiven Sorge um die Welt, aber auch ihren eigenen existenziellen Prüfungen entspringen: „Meine Mutter war eine Frau, die sich für andere aufopferte, während mein Vater ein typischer Lateinamerikaner war – ungestüm, ein guter Mann, ein schwieriger Mann.“
Um ihre Ausbildung in Florida fortzuführen, erhielt sie mit zehn Jahren ein Staatsstipendium, doch kehrte sie als Siebzehnjährige enttäuscht nach Caracas zurück: „Ich hasste Musik. Ich kam mir vor wie ein Zirkusäffchen.“ Die Teenagerin versuchte, Abstand zu gewinnen. Die Einladung, bei einem Brahms-Festival in Caracas mitzuwirken, änderte dies: „Ein Freund, der auch dabei war, sagte mir, ich solle mich bei der Royal Academy of Music in London bewerben. Prompt bot man mir einen gänzlich finanzierten Studienplatz an. Nur einen Haken gab es: Ich hatte nicht einmal das Geld, um nach Großbritannien zu fliegen.“
„Mein Großvater war ein Intellektueller, ein Universitätsprofessor. Er war jemand, der sich für die Belange der Arbeiter einsetzte. Ironischerweise gründete er die kommunistische Partei mit, die ich heute bekämpfe.“
Gabriela Montero
Glücklicherweise taten sich die Mittel auf, sodass Montero in London u. a. bei dem Pianisten Hamish Milne (1939–2020) studieren konnte: „Hamish war der erste große Pianist, dem ich bis dahin begegnet war. Er war bescheiden, präzise und warmherzig.“
In der jungen Pianistin aus Caracas reifte allmählich die spätere Komponistin: „Meine Karriere nahm an Fahrt auf, während ich vierzehn Jahre lang eine alleinerziehende Mutter war“, sagt Montero. „In den frühen Nullerjahren bin ich mit meinen beiden Töchtern zurück nach Caracas gezogen. Von dort bin ich überall hingeflogen und habe erst gar nicht gemerkt, was um mich geschah.“ In einer Zeit, als sich nicht nur die Verhältnisse in Venezuela dramatisch verschlechterten, sondern die Komponistin auch im Privaten mit großen Herausforderungen zu kämpfen hatte, verwandelte sie sich zu einer der gefragtesten Pianistinnen der Welt. Sie war im Kennedy Center, in der Carnegie Hall, im Münchner Herkulessaal sowie im Sydney Opera House oder im Amsterdamer Concertgebouw zu hören, um nur wenige der größten Säle zu nennen. Im Jänner 2009 spielt sie u. a. mit Yo-Yo Ma und Itzhak Perlman zur Amtseinführung von Barack Obama in Washington. Vor diesem Hintergrund erhielt sie für ihre CD-Aufnahmen den Echo Klassik, wurde für einen Grammy nominiert und spielte sich mit ihren Bach- und Ravel-Interpretationen in die Höhen der Klassik Charts.
Doch gleich, ob Gabriela Montero in Hongkong, Los Angeles, Stockholm oder in Wien die Bühne betritt, die Verbindung zu ihrem jeweiligen Publikum wird ihr nicht nur zu einem künstlerischen, sondern auch zu einem existenziellen Bedürfnis: „Ich wollte die vierte Wand niederreißen. Während eines Konzerts bat ich also das Publikum, mir spontan eine Melodie oder einen Klang – etwa einen Klingelton vom Handy – zu geben. Dies war der Einstieg“, erzählt Gabriela Montero, während ihre Augen leuchten. Indem sie die Vorschläge aus dem Publikum aufgriff, integierte sie das Publikum gleichsam mit in die Darbietung. „In Stockholm zum Beispiel nahm ich ein schwedisches Kneipenlied als Basis, das mir jemand aus dem Publikum vorgesungen hat. Oder in Köln hat einmal der gesamte Saal einen Karnevalsschlager angestimmt, aus dem ich dann eine Fuge improvisierte. Eine neurologische Studie, an der ich in Baltimore teilgenommen habe, zeigte, dass beim Improvisieren ganz andere Hirnregionen die Führung übernehmen – man verändert sich dabei.“
Es ist ebendiese emotionale Verwandlung, die Gabriela Montero anstrebt, wenn sie mit ihrer Musik das zu erzählen versucht, was ihr am Herzen liegt: „Musik kann uns auf einer Ebene berühren, wo uns keine klug formulierten Sätze erreichen. Die einzigen Geschichten, die ich in meinen Kompositionen erzählen kann, sind die, deren Wahrheit ich selbst fühle.“
Aus welchen Quellen nähren sich also die Kompositionen von Gabriela Montero? Zunächst ist da die Sorge um ihre Heimat Venezuela, deren Zerstörung durch eine international unterstützte Narko-Diktatur die Komponistin hautnah erlebt. Zweitens: Die Bewährung und Selbstbehauptung ihrer Kunst angesichts ihrer privaten Herausforderungen. Und schließlich ihre genuine Freude am Dialog mit ihrem Publikum.
Diese drei Elemente führten dazu, dass Gabriela Montero zu einer engagierten Fürsprecherin für Demokratie und Menschlichkeit geworden ist, wofür sie heuer mit dem Václav-Havel-Preis für humanitäres Engagement geehrt worden ist. Als Keynote-Speaker redete sie beim Weltwirtschaftsforum in Davos führenden Persönlichkeiten unserer Zeit ins Gewissen. Ihre Opposition zum Maduro-Regime machte Gabriela Montero nicht nur zu einer Zielscheibe von Hass und Anfeindungen in ihrer Heimat, sondern auch zur Empfängerin von tausenden und abertausenden Briefen und Nachrichten ihrer Landsleute, die ihr die furchtbarsten Berichte von Korruption, Ausbeutung und Gewalt schickten.
In ihrem Werk „Ex Patria“ bündelte sie die Erfahrungen von Gewalt und Korruption in einer nahezu essayistischen Weise zu einem berührenden Klavierkonzert. Für diese von Schmerz und Sehnsucht erfüllte Musik erhielt Gabriela Montero 2019 ihren ersten „Latin Grammy“.
Für ihr Erstes Klavierkonzert, das „Latin Concerto“, das am 12. Dezember im Großen Musikvereinssaal zu hören sein wird, hat sie in der Konstellation mit Marin Alsop und dem ORF RSO Wien bereits bei der „Seine Musicale“ in Paris großen Beifall geerntet. Das Werk setzt mit lateinamerikanischen Stilformen an. „Aber der großen Versuchung, sich vom Mambo und Milonga, vom ,Vals criollo‘, auch von Salsa und Tango-Rhythmen verführen zu lassen, sollte man widerstehen“, sagt Gabriela Montero ernst, „das sind stereotypische Assoziationen, die in einem natürlich aufkommen, wenn man diesen anfänglichen Teil hört. Es ist aber nur die heitere Oberfläche der lateinamerikanischen Welt.“ Darunter jedoch rumort es, schwelt eine dunkle, abgründige Dimension der südamerikanischen Seele: So sehr diese an der Oberfläche frivol, ungestüm und melancholisch klingen mag, so sehr kann sie auch gewaltsam, verbrecherisch und brutal sein. „Das spürt man, wenn die Komposition später kippt und diese verzweifelten Stimmungen zu Gehör bringt“, betont Montero.
Es ist ebendieses Spiel zwischen venezolanischer Lebensbejahung und real erlebter Tyrannei, es sind Widerstand und Selbstbehauptung, die dieses Stück von Gabriela Montero zu einem kraftvollen Zeugnis tiefer Humanität machen.
Donnerstag, 12. Dezember 2024
ORF RSO Wien
Marin Alsop | Dirigentin
Gabriela Montero | Klavier
Gabriela Ortiz
Antrópolis
Gabriela Montero
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1, „Latin Concerto“
Jessie Montgomery
„Strum“ für Streichorchester
Samuel Barber
Symphonie Nr. 1, op. 9