Künstlerisches Doppelleben: Zu Besuch bei Jewgenij Kissin in Prag
Von Edith Jachimowicz
23.03.2025
Neues aus dem Hause Kissin, so lautete der Schreibauftrag: Trotz Zeitknappheit am Vorabend seiner ausgedehnten Fernost-Tournee im Herbst mit Werken von Beethoven, Brahms und natürlich Chopin war der Pianist, Komponist, Poet und Buchautor Jewgenij Kissin im heimatlichen Prag zu einem Gespräch mit den „Musikfreunden“ bereit. Zentrales Thema war Dmitrij Schostakowitsch (1906–1975), anlässlich dessen 50. Todestags – aber nicht nur das.
„Schostakowitsch war immer einer der Komponisten, die meinem Herzen am nächsten stehen, seit meiner Kindheit“, sagt Kissin. „Damals war es so, und es ist bis heute so geblieben. Ich kannte ihn nicht persönlich, denn ich war vier Jahre alt, als er starb. Aber ich kannte etliche Personen aus seinem Kreis: seinen Sohn Maksim und andere. Meine ältere Schwester Alla lernte in derselben Klasse wie Schostakowitschs Enkel Dmitrij, für den der Großvater sein Zweites Klavierkonzert komponierte. Schostakowitsch hatte ein sehr schwieriges Leben, musste viel durchmachen – eine vollkommene Tragödie!“
Im Gedenkjahr 2025 wird Kissin viel Schostakowitsch spielen, das gesamte Jahr dessen Andenken widmen. Nicht nur musikalisch, wie er sogleich fortfährt: Seit einigen Jahren schreibt er an einem Roman, „auf Jiddisch, er heißt auch ‚Jiddischer Roman‘, wobei im Russischen das Wort ‚Roman‘ eine doppelte Bedeutung hat, als literarisches Genre und vom Inhalt her als Liebesgeschichte. Die beiden Hauptfiguren zur Zeit der 1970er Jahre in der Sowjetunion: ,Er‘ ein junger talentierter Pianist, aber ohne realen Bezug zu mir, ,sie‘ mit tatsächlich realem Hintergrund, eine Jugendliebe von mir.“ Schostakowitsch, mit geändertem Namen wie alle anderen handelnden Personen, spielt darin eine wichtige Rolle: Der Pianist wird von seinem Lehrer zum berühmten Meister gebracht und spielt diesem dessen Zweite Sonate vor. Dieses Vorspielen löst bei dem jungen Mann Reflexionen unterschiedlichster Art aus, musikalische Empfindung stößt auf die krasse Realität draußen auf der Straße. Eine Diskrepanz, der sich auch Schostakowitsch ständig bewusst war.
Wahrscheinlich stimmt es, dass die Leidenschaft des Komponisten für den Sport, insbesondere Fußball, aber auch Hockey, Tennis und Boxkampf ihm als Ventil diente. Er besaß eine Schiedsrichter-Lizenz und schrieb ein Fußball-Ballett. Dazu Kissin: „Er liebte es jedenfalls, ein Spiel zu pfeifen, wenn ein bestimmter Spieler auf dem Feld war: der Vorsitzende des KGB. Das hat er genossen, denn er konnte ihm sagen: Mit Schiedsrichtern disputiert man nicht!“
Schostakowitsch liebte Bach und Chopin. Deshalb dürfen sie bei Kissins Schostakowitsch-Würdigung im Musikverein nicht fehlen.
Schostakowitsch selbst hat sich über seine Zweite Klaviersonate im privaten Kreis unterschiedlich geäußert, manchmal als etwas weniger Wichtiges, obwohl er sehr lange daran gearbeitet hatte. Dies will Kissin nicht so stehenlassen. „Ein jeder Komponist arbeitet intensiv an seinen Werken. Wahrscheinlich war Mozart der Einzige, dem es leichtfiel, ein Stück einfach so hinzuschreiben. Sein Genius eben! Aber Komponisten erkennen manchmal die Größe eines eigenen Werks nicht. Die harte Arbeit steht manchmal im Gegensatz zur inneren Freude am Geschaffenen. Den Wert dieser Komposition aber hat die Geschichte erwiesen.“
Kissins Programm für den Musikverein ist, wie zu erwarten, mit Bedacht gewählt: Johann Sebastian Bachs Zweite Partita c-Moll sowie zwei Nocturnes und ein Scherzo von Chopin im ersten Teil nehmen Bezug einerseits auf Schostakowitschs Verehrung für sein großes Leipziger Vorbild sowie andererseits auf seine Liebe zu Chopin, dessen Stücke er gerne manchmal nur für sich selber spielte. „Seine Vorbilder für die Präludien und Fugen
op. 87 waren die Präludien Bachs. Er schrieb sie unter dem Eindruck der 200-Jahr-Feier nach dem Tode Bachs in Leipzig, wo er eingeladen war. Er schätzte Bach vor allen anderen.“ Das weiß Kissin von dem bedeutenden Bratschisten und Dirigenten Rudolf Barschai: Jeden Morgen, bevor er sich zum Komponieren hinsetzte, sei Schostakowitsch ans Klavier gegangen und habe Bach gespielt. Zu Barschai sagte er einmal: „Musik muss man so schreiben, wie Bach es getan hat. Auf welchem Instrument auch immer Du spielst, in welcher Tonalität, es ist wunderbar, daraus zu lernen.“

Der zweite Teil von Kissins Soloprogramm beginnt mit Schostakowitschs Zweiter Klaviersonate, gefolgt von drei der 24 Präludien und Fugen aus op. 87. Am liebsten von allen 24 sind ihm jene in d-Moll und fis-Moll. „Sie sind für den durchschnittlichen Hörer nicht so zugänglich, im Gegensatz zur jenem in Des-Dur. Es ist schnell und leichtfüßig. Als Russe könnte man sagen: Wie starker, mit Wasser verdünnter Tee.“ An die Solistin der Uraufführung von op. 87, die legendäre Bach-Preis-Trägerin Tatjana Petrowna Nikolajewa (1924–1993), hat Kissin nur wenige Erinnerungen. Einmal bei einem Konzert, oder in den Sommerferien in den Künstlerpensionaten am Schwarzen Meer. Da gab es nur ein Klavier zum Üben, welches er nach einem strengen Terminplan mit der berühmten Pianistin teilen musste. Aus seinem Familien- und Bekanntenkreis wusste er aber viel über sie. „Als Nikolajewa erstmals den Zyklus aufführte, war Schostakowitsch natürlich im Publikum und sagte nachher: ‚Ich habe gar nicht gewusst, dass ich so gute Musik geschrieben habe.‘“ Schon Jahre zuvor hatte der Komponist einen Präludien-Zyklus komponiert, op. 34, der habe mit dem späteren Zyklus op. 87 nichts gemein, meint dazu Kissin.
Ein Bedürfnis nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch ist es Jewgenij Kissin, den 50. Todestag Schostakowitschs am 9. August 2025 würdig zu begehen. Dies wird im Rahmen der Salzburger Festspiele geschehen: Mit einem Kammermusikprogramm, in dem neben dem Pianisten auch Gidon Kremer, Gautier Capuçon und Maxim Rysanov auftreten, wird gleichsam als Requiem auch Schostakowitschs letzte Komposition, die Sonate für Viola und Klavier in C-Dur, op. 147, erklingen. Noch auf dem Totenbett hat er die letzten Korrekturen angebracht.
Kissins eigenes kompositorisches OEuvre ist inzwischen auf sechs Nummern angewachsen. Zuletzt waren dies ein Vokalzyklus auf neun Gedichte seines langjährigen Freundes, literarischen Beraters und Verlegers Boris Sandler. In New York haben die beiden ein literarisch-poetisches Zentrum, The House of Poetry, etabliert, vor allem für jiddische Texte. Kissins zuletzt komponiertes Werk ist ein Klaviertrio, der Ukraine gewidmet. „Im zweiten Satz zitiere ich ukrainische Lieder, die ich in meiner Kindheit gehört habe“ (Er verbrachte dort die Sommer bei seiner Großmutter). „Im Finalsatz zitiere ich die Ukrainische Hymne.“
Während der Jahre der Pandemie, in denen er als Pianist kaum auftreten konnte, war Kissin vorwiegend literarisch tätig. Seine eigenen Gedichte, auf Jiddisch, wurden in Paris publiziert. Auch sein eingangs erwähnter Roman wird dort gedruckt, sobald er fertig ist. Sein drittes Buch erscheint gerade. Während der Pandemie schrieb er drei Tagebücher: „Nachdenken über Aktuelles, Gedanken zu allen möglichen Themen, auch über Vergangenes.“ Vorletztes Jahr besuchte er während einiger freier Tage Israel, aus Interesse, um sich ein Bild zu machen. Dabei entstand ein israelisches Tagebuch.
Trotz seiner inzwischen wieder intensiven Reisetätigkeit als Pianist findet Kissin weiterhin Zeit für Dinge, die ihm als Künstler und Menschen wichtig sind.
Zu diesen gehört eine große Komposition: ein Musical. Wenn er über dieses spricht, sprudelt es nur so aus ihm heraus, denn aus der ersten Version mit dem Libretto von Boris Sandler hat sich bald danach eine hochdramatische Endfassung entwickelt. Man könnte dies fast als „Familienunternehmen“ bezeichnen, denn ausschlaggebend für die wesentlichen textlichen Veränderungen war Kissins Schwägerin Marianna Arzumanova, eine Schauspielerin und Regisseurin. Sie wollte die gänzlich fiktive Urfassung in das reale Umfeld eines Nazi-Konzentrationslagers verlegen, inklusive einer Liebesgeschichte und einer jüdischen Hochzeit. Im Finale wurde eine Begebenheit einbezogen, die tatsächlich einmal stattgefunden hat. Für diese Fassung komponierte Kissin noch einen zusätzlichen Hochzeitstanz. Die Urfassung, eine Art Märchen über das Erlernen des hebräischen Alphabets, das einem Kind erzählt wird, wurde in Birobidschan, dem Verwaltungszentrum des Jüdischen Autonomen Oblast in Ostsibirien, bereits aufgeführt, die überarbeitete Fassung letztes Jahr auf Schloss Elmau in den bayrischen Alpen im Rahmen des dortigen Konzertprogramms. Für dieses Jahr liegt bereits eine Einladung nach Theresienstadt vor.
Zukünftige Pläne hat Jewgenij Kissin natürlich jede Menge, es wurde ihm auch einiges vorgeschlagen, doch „möchte ich nicht über Pläne sprechen, die noch nicht realisiert sind“.
Freitag, 28. März 2025
Jewgenij Kissin | Klavier
Johann Sebastian Bach
Partita Nr. 2 c-Moll, BWV 826
Frédéric Chopin
Nocturnes cis-Moll, op. 27/1, und
As-Dur, op. 32/2
Scherzo E-Dur, op. 54
Dmitrij Schostakowitsch
Sonate für Klavier Nr. 2
h-Moll, op. 61
Präludien und Fugen, op. 87 (Auswahl)