Meister auf Gesellenreise: Jonas Kaufmann und Rudolf Buchbinder mit der „Schönen Müllerin“
Von Joachim Reiber
26.07.2024
„Zur Müllerin hin! So lautet der Sinn …“ Jonas Kaufmann ließ sich mit Freuden locken, als der Ruf kam. Ein Schubert-Projekt mit Rudolf Buchbinder im Musikverein, noch dazu mit der „Schönen Müllerin“ – könnte es da ein Halten geben für einen echten Schubertianer? „Lass singen, Gesell, lass rauschen, und wandre fröhlich nach!“ Zwei leidenschaftliche Schubert-Freunde machen sich nun auf den Weg, voll Lust und Neugier auf all das, was ihnen diese erstmalige Begegnung bringen wird. „Über viele Jahre sind Rudolf Buchbinder und ich einander im Musikzirkus begegnet, sei es bei diversen Festivals überall auf der Welt oder in seinem musikalischen Zuhause als Intendant in Grafenegg“, erzählt Jonas Kaufmann. „Dabei haben wir uns immer wieder ausgetauscht und unsere tiefe Bewunderung zum Ausdruck gebracht. Im Laufe eines solchen Gesprächs reifte der Gedanke, endlich einmal gemeinsam musizieren zu wollen. ,Die schöne Müllerin‘ war ein Vorschlag von ihm, den ich mit großer Freude aufgenommen habe, da wir beide eine besondere Liebe zu Schubert pflegen.“
Ja, die Schubert-Liebe! Wie könnte man Pianist sein ohne sie? Rudolf Buchbinder ist dafür ein leuchtendes Beispiel – und unvergessen der Moment, als er im Vorfeld des Beethoven-Jahres 2020 sein Diabelli-Projekt vorstellte und dazu ein Interview im Musikverein drehen ließ. Auf der Bühne des leeren Goldenen Saals stand ein Flügel. Spontan nahm Buchbinder davor Platz und spielte, ohne dass er es zuvor geplant hätte, eine von den mehr als 50 historischen Diabelli-Variationen, nämlich die von Franz Schubert. So anders im Ton, so eigen in der Sprache – ein Wunder an schöpferischer Individualität: unverwechselbar Schubert! „Die schöne Müllerin“, erklärt Buchbinder, gehöre für ihn ganz unbedingt zu dieser Schubert-Liebe. „Sie begleitet mich schon seit meiner frühesten Jugend. Ich singe sie auch für mich, in der Nacht, in der Stille …“ Und bevor noch das Gespräch über den geliebten Zyklus in Gang kommt, geht Rudolf Buchbinder zu einem Regal in seinem Studio und zieht eine LP heraus: „Das ist meine erste Aufnahme der ,Schönen Müllerin‘ – 1967 hab’ ich sie gemacht, mit Werner Krenn.“ Rudolf Buchbinder war damals 21, Tenor Werner Krenn drei Jahre älter – die herrlich jugendfrische „Müllerin“ wird bis heute von Connaisseurs per Youtube weiterempfohlen. Dass er selbst einmal gern Tenor geworden wäre, diesen Bubentraum bekennt Buchbinder gern – nicht ohne hinzuzufügen, dass seine Stimme den wahrlich raren Fall darstelle, nicht einmal im Badezimmer gut zu klingen. Er wusste es zu verschmerzen, „dazu liebe ich die schwarz-weißen Tasten zu sehr!“ Und vor allem: Er nimmt das Singen mit hinein in seine Kunst – und das, versteht sich, im wissenden Einklang mit den Größen, denen er dient. „Für Beethoven war es unabdingbar, dass am Klavier gesungen wird! Und was das Gesangliche bei Schubert angeht, ist doch vollkommen klar: Ohne am Klavier zu singen, kann man Schubert nicht spielen.“
Für die Singenden wieder geht es nicht ohne Schubert. Grün, die liebe Farbe, gehört zur Grundausstattung aller Studierenden im Fach Gesang, die Peters-Ausgaben der Schubert-Lieder, grün eingebunden – und da natürlich, gleich im Band I, die Schubert-Zyklen, beginnend mit der „Schönen Müllerin“. So entdeckte auch Jonas Kaufmann seinen Schubert. „Schuberts Werk ist eine Welt für sich, die sich mir letztlich durch Helmut Deutsch, meinen Mentor und ständigen Begleiter im Liedgesang, während meiner Studienzeit erschlossen hat. Ich weiß nicht“, sagt Kaufmann, „wie oft ich mit ihm die großen Zyklen und einzelne Schubert-Gruppen gesungen habe, aber eines ist mir klar: Mit Schubert wird man niemals ,fertig‘, weil man die Reisen durch diese Gefühlswelten immer wieder neu erlebt und neu empfindet – und sich damit als Sänger und Interpret hoffentlich auch immer ein Stückchen weiterentwickelt, auch noch nach der fünfzigsten ,Winterreise‘.“
Damit ist das Stichwort für eine Frage gegeben, die man einfach stellen muss, wenn es um die großen Schubert-Zyklen geht: Was unterscheidet – aus der Sicht von Jonas Kaufmann – „Die schöne Müllerin“ von der „Winterreise“? „Bei der ,Winterreise‘ herrscht von Anfang an ein depressiver Grundton. Man hört gleich zu Beginn, wie die Geschichte endet. Und genau das“, findet Kaufmann, „sollte man bei der ,Müllerin‘ unbedingt vermeiden. Die ersten Lieder der ,Müllerin‘ sind für mein Empfinden reinster Ausdruck von Lebensfreude, und so sollte man sie auch darbieten. Der Bursche, der sich da auf die Wanderschaft macht, strotzt doch vor Energie und Selbstvertrauen. Je intensiver es einem gelingt, diese Stimmung zu vermitteln, desto stärker der Spannungsbogen, desto größer die Fallhöhe, desto größer der Bruch. Es geht hier ja um einen jungen Menschen, der frisch und fröhlich, völlig unbekümmert in die Welt hinauszieht – und dann mit voller Wucht ins Messer rennt. Seine unglückliche Liebe zur Müllerin ist seine erste schmerzvolle Erfahrung.“
Schmerz, der sich in Musik verwandelt. „Meine Erzeugnisse“, schreibt Schubert im März 1824 in ein Notizbuch, „sind durch den Verstand für Musik und durch meinen Schmerz vorhanden; jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen am wenigsten die Welt zu erfreuen.“ Es war die Zeit, als „Die schöne Müllerin“ im Druck herauskam. Komponiert hatte er sie im Herbst 1823, vorwiegend „im Spitale“ – Schubert wurde nach einer Syphilis-Infektion im Allgemeinen Krankenhaus traktiert, Krankheit und Behandlung hinterließen qualvolle Spuren, dem Patienten wurden die Haare geschoren, Schubert trug, wie ein Freund mit forciertem Humor festhielt, „eine gemütliche Perücke“. Gemütlich? Alles andere als das. „Schmerz schärfet den Verstand und stärket das Gemüth“, an solche Sätze, ebenfalls ins Tagebuch geschrieben, klammerte sich Schubert damals, im Frühling 1824. Ein Dasein in Tristesse – Rudolf Buchbinder sucht den ungeschönten Blick darauf. „Ich halte überhaupt nichts vom Glorienschein, mit dem solche Lebensgeschichten gern umgeben werden“, sagt er und geht wieder zu den reich bestückten Stellagen seines Studios. Die Erstausgabe der „Schönen Müllerin“ zieht er heraus, 1824 in fünf Heften erschienen, und irgendwo findet sich auch ein Buch über „Die großen Österreicher“, Mitte der 1980er Jahre veröffentlicht. Darin versammelt 21 Porträts – Nikolaus Harnoncourt schrieb damals über Mozart, Otto M. Zykan über Schönberg, Alfred Hrdlicka über Egon Schiele … Und Rudolf Buchbinder: über Franz Schubert. Mit scharfem Stift zeichnet er da einen Menschen, der von Kindheit an in ein „Leben der fortwährenden Zwänge“ gestoßen wird. Widerstände und Widrigkeiten prägen seine Bahn, der Schmerz, so Buchbinder im Gespräch, „durch die Nicht-Anerkennung seines Könnens in der damaligen Zeit“ – und dann: solch ein Werk! Rund 1.000 Werke in so wenigen Jahren, mehr als 600 Lieder, unfassbar wundervolle Musik. Es bleibt ein Rätsel, es bleibt ein Geheimnis. „Und das“, sagt der Schubertianer Buchbinder, „ist auch gut so!“
Nun also gehen sie gemeinsam auf Wanderschaft, Rudolf Buchbinder und Jonas Kaufmann. Der Weg führt ins Offene – und was könnte man Besseres sagen bei dieser Gesellenreise, die zur Mühle und zur schönen Müllerin hinzuziehen scheint und doch noch viel weiter führt: hinunter und immer weiter, und immer dem Bache nach, im Sog des Singens und Klingens, des Raunens und Rauschens aus der Tiefe … Besonders offen wird der Weg diesmal sein und spannend die Reise, weil die beiden erstmals zusammen musizieren. „Wir werden uns zwei, drei Tage vorher treffen und miteinander arbeiten“, verrät Buchbinder und fügt hinzu, dass er, bestärkt durch jahrzehntelange Erfahrung, von exzessiver Proberei nichts halte. „Wenn es nicht beim ersten Mal funktioniert, genügen auch zwanzig Proben nicht“, sagt er und erinnert sich lächelnd an seine Partnerschaft mit dem Geiger Josef Suk. Einmal stand eine Brahms-Sonate auf dem Programm, die sie niemals gemeinsam aufgeführt hatten. „Wir spielen das an und beginnen zu proben – da sagt Suk: ,Weißt was, Rudi, den langsamen Satz überlassen wir der Inspiration.‘ So haben wir’s auch gemacht. Das ist Musik! So soll es sein!“ Den Gleichklang mit Jonas Kaufmann hat er darin schon jetzt gefunden, denn auch für Kaufmann ereignet sich das künstlerische Miteinander „im Idealfall ganz intuitiv, ohne lange Diskussionen. Hier von ,Klavierbegleitung‘ zu sprechen wäre grundverkehrt: Es ist ein Dialog. Oft führt die Klavierstimme aus, was im Text angedeutet wird, manchmal führt sie auch den Gedanken weiter oder stellt das Gesagte in Frage.“ Ganz außer Frage steht: Am 21. September wartet ein großer Schubert-Abend auf das Wiener Publikum. Zur Müllerin hin, so lautet der Sinn!
Samstag, 21. September 2024
Jonas Kaufmann | Tenor
Rudolf Buchbinder | Klavier