Immer mit der Ruhe: Julia Hagen

© Martina Draper / Lucerne Festival
Kurz vor Weihnachten konnte die Salzburger Cellistin Julia Hagen im Wiener Musikverein den begehrten Credit Suisse Young Artist Award 2024 für sich entscheiden. Anfang Mai tritt sie gleich zwei Mal im Großen Musikvereinssaal auf – als Solistin in Schumanns Cellokonzert und als Kammermusikpartnerin von Igor Levit und Renaud Capuçon.

Von Markus Siber

24.04.2024

Diskret wie eine Schweizer Bank: Wüsste man nicht, dass der angesehene und hochdotierte Wettbewerb maßgeblich von einem Schweizer Kreditinstitut getragen wird – man hätte ihn vermutlich ohnehin mit einem solchen assoziiert. Denn als im vergangenen Dezember im Musikverein der Credit Suisse Young Artist Award 2024 über die Bühne des Brahms-Saals ging, war absolute Verschwiegenheit das Gebot der Stunde. Die fünf Kandidat:innen, nominiert vom Lucerne Festival, den Wiener Philharmonikern, der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und der Credit Suisse Foundation, wurden geschickt aneinander vorbeigelotst. Bis heute wissen die beteiligten Instrumentalist:innen und Sängerin:innen nicht, gegen wen sie angespielt bzw. angesungen haben. Nach den Beratungen wählte der Jury-Präsident schließlich die Telefonnummer von Julia Hagen, um sie über den Sieg zu informieren. Ein eilig einberufenes Fotoshooting im Musikverein folgte, wenig später informierte eine Presseaussendung die Öffentlichkeit, dass die junge Österreicherin beim nächsten Lucerne Festival mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Christian Thielemann Schumanns Cellokonzert zur Aufführung bringen wird.

„Wir sollten bei unseren Interpretationen mehr Persönlichkeit einbringen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir heute überkorrekt spielen, weil wir nichts falsch machen wollen. Da könnten wir allesamt mutiger sein.“

Das will erst einmal alles verarbeitet werden! Selbst einer überaus eloquenten Künstlerin kann es in solchen Momenten die Sprache verschlagen. „Schon die Einladung, daran teilzunehmen, war eine große Ehre für mich“, erzählt die Cellistin wenige Wochen später am Ort ihres Triumphes. „Ich war jedenfalls weit davon entfernt, an einen Sieg zu denken. Eigentlich fühlte es sich auch gar nicht wie ein Wettbewerb an. Ich wollte einfach nur ein schönes Rezital spielen. Dass ich nun mit der aktuellen Traumkombi der Klassik-Welt, den Wiener Philharmonikern und Christian Thielemann, auftreten darf, ist schon ein enormes Glück. In den kühnsten Träumen hätte ich mir das nicht ausmalen können. Thielemann gilt ja als ein hervorragender Dirigent, der seine Solist:innen auf Händen trägt. Gerade beim fragilen Schumann-Konzert, das zu meinen liebsten Stücken zählt, ist das enorm hilfreich.“

Einfach spielen – das scheint eines der Erfolgsgeheimnisse von Julia Hagen zu sein, die sich auf eine stupende Technik verlassen kann. Wenn sie die Bühne betritt, wirkt das so, als gäbe es nichts Leichteres und gleichzeitig Wichtigeres auf der Welt. Die sympathische Unerschrockenheit, mit der sie ihrem Publikum begegnet, legt den Schluss nahe, dass sie tatsächlich schwer aus der Fassung zu bringen ist. Doch ist sie auf der Bühne wirklich über alle Unsicherheiten erhaben? „Ich versuche immer, mir so gut wie möglich den Druck zu nehmen. Wenn das gelingt, spiele ich einfach viel freier. Es gibt immer den Moment, an dem es keinen Weg mehr zurück gibt. Man muss das Vertrauen haben, dass alles gutgeht.“ Ein schönes Beispiel, wie sehr Julia Hagen beim Musizieren in sich ruhen kann, ist ein auf Youtube abrufbares Video von Gabriel Faurés Charakterstück „Après un rêve“. Entstanden im Rahmen einer Meisterklasse von Gautier Capuçon, zeigt es sie inmitten einer Gruppe anderer aufstrebender Cellist:innen. Während sie mit großem Ausdruck die getragene Melodie vorantreibt, wird sie von diesen mit einer Andächtigkeit begleitet, die ihresgleichen sucht. Auch hier sieht und hört man, wie Julia Hagen alles hinter sich lassen und über sich hinauswachsen kann.

Wenn sie mit Künstler:innen auftritt, die sie seit langem kennt, steigert das ihre innere Ruhe natürlich noch. Wer Julia Hagens Karriere beobachtet, wird immer wieder auch auf den Namen Igor Levit stoßen, mit dem sie regelmäßig Kammermusik spielt, demnächst auch, gemeinsam mit dem Geiger Renaud Capuçon, im Musikverein. Mit Levit die Bühne zu teilen gehört für sie überhaupt zum Größten: „Igor ist faszinierend, weil er mir so ein Gefühl von Vertrauen gibt. Ich kann machen, was ich will, und er fängt alles auf. Ich kenne wenige Pianisten, die so zart und durchsichtig spielen können, aber gleichzeitig auch so präsent sind.“ Igor Levit, ein großer Pianist, der sein Künstlertum auch immer wieder als politische Sendung versteht – die Frage liegt nahe, ob sich seine Kollegin in ähnlicher Weise über den Lauf der Welt Gedanken macht und auch das Bedürfnis hat, Stellung zu beziehen. „Das ist bei mir ganz unterschiedlich“, sagt Julia Hagen nach kurzem Überlegen. „Eine Zeitlang habe ich in den sozialen Medien kundgetan, was mir am Herzen lag. Das war meist spontan, wenn es sich aus einer konkreten Situation heraus richtig angefühlt hat.“ Im Moment beschäftige sie das aktuelle Weltgeschehen zwar nicht weniger, sie diskutiere mit Freund:innen auch viel darüber. Aber sie äußere sich weniger öffentlich darüber, weil man für große Debatten mehr Zeit und vor allem mehr Energie aufbringen müsse, als es ihr bei ihrem dichten Arbeitspensum derzeit möglich sei.

Eine zweite Künstlerin, mit der Julia Hagen in nächster Zeit im Musikverein auftreten wird, ist Mirga Gražinytė-Tyla. In der kommenden Saison spielt sie unter ihrer Leitung Max Bruchs Kol Nidrei, noch in dieser Spielzeit steht Schumanns Cellokonzert auf ihrem gemeinsamen Programm, das, so scheint es, ein Schlüsselwerk in Julia Hagens noch junger Karriere ist. Schon vor zwei Jahren spielte sie es bei ihrem Debüt im Großen Musikvereinssaal: „Beim Schumann-Konzert muss man wahnsinnig hellhörig bleiben. Weil es so zerrissen ist, kann man es nicht so spielen wie das Dvořák-Konzert, von dessen Sogwirkung man sich treiben lassen kann. Allein der Anfang – es ist wahnsinnig schwer, den Charakter zu finden. Dazu kommt, dass es sehr pianistisch geschrieben ist, am Cello also unlogisch liegt. Das macht es für mich vielleicht sogar zum schwersten Konzert.“

Bei ihrer Interpretation weiß sich Julia Hagen auf einem eigenständigen Weg. Sie höre relativ wenig Aufnahmen. Vor allem die Einspielungen der älteren Generationen seien aber sehr ermutigend: „Die großen Cellisten von Pablo Casals aufwärts haben viel mehr Persönlichkeit in ihre Interpretationen eingebracht, als wir es uns heute trauen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir heute überkorrekt spielen, weil wir nichts falsch machen wollen. Da könnten wir allesamt mutiger sein.“
Welcher Zauber mit Interpretationen einhergehen kann, zeigt ein prägendes Ereignis in Julia Hagens musikalischer Entwicklung, das bereits zehn Jahre zurückliegt: „Relativ am Anfang meines Studiums durfte ich an der Ozawa-Akademie in der Schweiz teilnehmen. Und wir kamen in den kurzen Genuss, bei einer Probe von Seiji, der von seiner Krankheit schon schwer gezeichnet war, dirigiert zu werden. Plötzlich stand er vor uns und spielte mit uns einen langsamen Quartettsatz von Beethoven durch. Dann bedankte er sich bei uns und ging wieder. Wir hatten Tränen in den Augen, brachten kein Wort heraus. Er hat es geschafft, uns in nur wenigen Momenten unglaublich stark zu berühren.“

© Martina Draper / Lucerne Festival

Wie alle anderen Künstler:innen ihrer Generation auch, ist Julia Hagen deutlich jünger als ihr durchschnittliches Publikum. Wie wenig andere scheint sie aber dank ihrer Unverfälschtheit das Zeug zu haben, die Fahne der klassischen Musik an vorderster Stelle in die Zukunft zu tragen. Seit kurzem unterstützt sie auf ihrem Weg durch die Konzertsäle der Welt wieder ihr langjähriger Begleiter, auf den sie aufgrund einer Generalüberholung acht Monate lang verzichten musste: ihr geliebtes Cello von Francesco Ruggeri. Auch bei den bevorstehenden Konzerten im Musikverein wird es wieder an ihrer Seite sein!

Donnerstag, 2. Mai 2024

Orchestre Philharmonique de Radio France
Mirga Gražinytė-Tyla I Dirigentin
Julia Hagen I Violoncello

Mikalojus Konstantinas Čiurlionis
Miške. Symphonische Dichtung

Robert Schumann
Konzert für Violoncello und Orchester a-Moll, op. 129
Symphonie Nr. 2 C-Dur, op. 61

Sonntag, 5. Mai 2024

Igor Levit | Klavier
Renaud Capuçon | Violine
Julia Hagen | Violoncello

Johannes Brahms
Klaviertrios Nr. 1–3

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