Aus einer neuen Welt: Igor Levit spielt Prokofjews Klavierkonzerte

© Amar Mehmedinovic
Sergej Prokofjews Klavierkonzerte entstanden im Zeitraum von zwei turbulenten Jahrzehnten. In einem eigenen Saisonschwerpunkt stehen die fünf bahnbrechenden Werke mit Igor Levit im Musikvereinsprogramm.

Von Rainer Lepuschitz

20.03.2025

„Eine neue Welt ist gekommen, um ihren Platz einzunehmen“, schrieb der Kritiker Boris Assafjew über Sergej Prokofjews Klavierkonzert Nr. 1 Des-Dur nach einer Aufführung in Pawlowsk, wo gleichsam eine pianistisch-orchestrale Dampflok durch die Konzertstätte am Bahnhof schnaubte und alles bisher Dagewesene im Genre Klavierkonzert überholte. Das war 1912, Prokofjew gerade einmal 21 Jahre alt und noch Student am St. Petersburger Konservatorium. Neu ist wahrlich die Welt, die sich da in dieser traditionsreichen Konzertgattung auftut, neu die Klangsprache, die Harmonik und vor allem auch die Rhythmik in dieser teuflisch schwer zu spielenden und damals schwer zu begreifenden Musik.

„Zum Teufel mit der futuristischen Musik!“, war denn auch ein Jahr später in der „Petersburger Zeitung“ über die Uraufführung, wiederum in Pawlowsk, von Prokofjews Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll zu lesen. Die russische Avantgarde am Vorabend der Revolution begrüßte jedoch den jungen wilden Pianisten und Komponisten. Trotzdem verließ dieser während der Revolution seine Heimat, weil er im internationalen Musikleben bessere Karrieremöglichkeiten erwartete. Die handschriftliche Partitur des Zweiten, noch nicht im Druck erschienenen Konzerts blieb in Russland zurück und ging angeblich in Flammen auf, als Revolutionäre, die Prokofjews Wohnung besetzt hatten, dort ein Feuer zum Kochen machten – die Revolution fraß in diesem Falle eines ihrer Werke.

Als sich Prokofjew nach jahrelangen, Kraft und Nerven kostenden Konzerttourneen, Opern- und Ballettabenteuern in den USA und in Westeuropa für längere Zeit in den bayerischen Kurort Ettal zurückzog, fand er Muße, das verlorengegangene Zweite Klavierkonzert aus dem Gedächtnis zu „rekomponieren“. Auch in dieser zweiten, 1924 in Paris uraufgeführten Version ist das Werk von einem unbändigen Freiheitsdrang des Ausdrucks und der musikalischen Bewegung erfüllt und dokumentiert mit seinen vier gewichtigen, nie zur Ruhe kommenden Sätzen eine vollständige Loslösung von Konventionen sowie eine vollständige Hinwendung zu dissonanten Klangfeldern und expressiver Dynamik. Der soghafte, in einer permanenten Steigerungswelle und gigantischen Klavierkadenz enorme Größe aufbauende erste Satz ist eines jener Kunstwerke des frühen 20. Jahrhunderts, die dessen katastrophale Ereignisse und tragischen Geschehnisse prophezeiten.

© Felix Broede

Im Sommer 1921 verbrachte Prokofjew eine gleichermaßen kreative wie erholsame Phase in der Bretagne, wo er auf den emigrierten Dichter Konstantin Balmont, einen Künstlerfreund aus russischen Tagen, traf. Prokofjew vertonte Gedichte Balmonts und spielte ihm aus seinem neuen Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur vor. Den Dichter inspirierte die Musik zu einem Sonett mit dem Titel „Troisième Concerto“: „Ein fröhlicher Brand der purpurnen Blume, / Das Instrument der Worte spielt kleine Flammen, / Um plötzlich die Feuerzungen auszustrecken, / Aus geschmolzenem Erz ist ein Strom geworden …“
Das nach dem gewaltigen Zweiten nun viel eingängigere, von volksmusikalischen Einflüssen geprägte Dritte Konzert trat bald nach seiner Uraufführung mit Prokofjew und dem Dirigenten Leopold Stokowski in Chicago seinen Siegeszug durch die Musikwelt an. Seinen avancierten Stil verpackte Prokofjew hier in einem adretten Gewand, dessen pianistischer Stoff es nichtsdestotrotz wieder in sich hat.
1931, als Prokofjew bereits viele Kontakte in sein Heimatland geknüpft hatte und seine geplante Rückkehr mit Gastspielen in der jungen Sowjetunion vorbereitete, erreichte ihn aus Österreich der Auftrag des Pianisten Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, ein Klavierkonzert für die linke Hand zu komponieren. Das Werk erfüllte Wittgensteins Erwartungen nicht: „Ich danke Ihnen für das Konzert, aber ich verstehe darin keine einzige Note und werde es niemals spielen.“ Dabei hatte Prokofjew den Auftrag mit seinem Klavierkonzert Nr. 4, op. 53, geradezu ideal erfüllt, indem er mit seinem ganzen pianistischen Verstand einen Klaviersatz auf bloß eine Hand übertrug, der durchwegs klingt, als würde er von zwei Händen gespielt. Erst 1956 erfolgte posthum in Ostberlin durch den Pianisten Siegfried Rapp die Uraufführung.

5 + 5 = 55 lautet die Formel des Klavierkonzerts Nr. 5 G-Dur, op. 55, mit seinen fünf Sätzen, die genau abgezirkelt sind: Die drei „ungeraden“ Sätze bilden drei verschiedene Spielarten perpetuierter Bewegung und toccatahafter Beschaffenheit, die zwei „geraden“ Sätze sind im Tempo gemäßigte Gegenpole. In allen fünf Sätzen wandte Prokofjew, so sein Hinweis, verschiedene pianistische „Kunstgriffe“ an, die aber auf einer überraschenden Quelle gründen: So habe er vor der Komposition dieses Konzerts den virtuosen Klavierstil von Brahms intensiv studiert.
Das Fünfte Klavierkonzert erlebte seine Uraufführung 1932 – durch die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler und wieder mit dem Komponisten selbst am Soloinstrument – auf deutschem Boden, nur wenige Monate vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Hiermit endet die Geschichte von Prokofjews Klavierkonzertkosmos, der wirklich, wie Boris Assafjew in Hinblick auf das Konzert Nr. 1 erkannte, „eine neue Welt“ erschloss. Alle fünf Konzerte stellen mit ihren unerbittlichen Toccaten, ihrer unberechenbaren Rhythmik, ihrer oft gebrochenen Harmonik, ihren abrupten Stimmungs- und Themenwechseln, ihrer klanglichen Vielfarbigkeit, Wucht und Brisanz ein beständiges Abbild der unbeständigen, turbulenten Welt dar, in der sie entstanden.

Ein sechstes Konzert konnte Prokofjew, nunmehr als Doppelkonzert für zwei Klaviere konzipiert, zwei Jahrzehnte später als gemaßregelter Künstler in Stalins schrecklicher Sowjetdiktatur nur mehr marginal skizzieren. Am 5. März 1953 starb der Komponist am selben Tag wie Stalin.

Budapest Festival Orchestra
Iván Fischer | Dirigent
Igor Levit | Klavier

Freitag, 21. März 2025

Sergej Prokofjew
Klavierkonzert Nr. 1 Des-Dur, op. 10
Klavierkonzert Nr. 5 G-Dur, op. 55
Symphonie Nr. 5 B-Dur, op. 100

Samstag, 22. März 2025

Sergej Prokofjew
Ouvertüre über hebräische Themen, op. 34
Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur, op. 26
Suite aus „Cinderella“, op. 87

Sonntag, 23. März 2025

Sergej Prokofjew
Die Liebe zu den drei Orangen. Suite, op. 33a
Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll, op. 16
Klavierkonzert (für die linke Hand) Nr. 4 B-Dur, op. 53
Symphonie Nr. 1 D-Dur, op. 25, „Symphonie classique“

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