Gurren in Gurre: Neun Hashtags für Schönbergs „Gurre-Lieder“
Von Markus Siber
15.07.2024
#Preisausschreiben
Was sich Jahre später zu einem der größten Werke des Konzertrepertoires auswuchs, hatte klein begonnen: Als der Wiener Tonkünstler-Verein im Jahr 1900 ein Preisausschreiben für einen Liederzyklus mit Klavier auslobte, zögerte Arnold Schönberg nicht lange, sich daran zu beteiligen. Obwohl er sich bald an die Arbeit machte, einen Gedichtzyklus des Dänen Jens Peter Jacobsen zu vertonen, sollte es jedoch nie zu einer Einreichung kommen. Schönberg schwebte sowohl von der Anlage als auch von der Besetzung her etwas Größeres vor. Doch so stark seine Ambitionen anfangs auch waren, verlor er das Werk für einige Jahre aus den Augen, in denen er sich in eigenen Werken zur Atonalität vorwagte und darüber hinaus mit Operettenbearbeitungen beschäftigt war. Erst eine erfolgreiche Aufführung des Vorspiels, das Anton Webern für acht Hände auf zwei Klavieren transkribiert hatte, weckte in ihm die Lust, das Werk doch noch fertigzustellen.
#SeltenerKaktus
Ein Szenario, wie es eigentlich nicht kurioser sein könnte: Eine junge Dichterrunde wartet darauf, dass sich die Knospen eines seltenen Kaktus öffnen. Zum Zeitvertreib tragen sich die Männer literarische Werke aus ihrer Feder vor. Eines davon trägt den Titel „Gurresange“ und bildet, in einer Übersetzung des Wiener Philologen Robert Franz Arnold, die Grundlage für Schönbergs Komposition. Der Autor der Rahmenerzählung und der Gedichte ist der dänische Impressionist Jens Peter Jacobsen (1847–1885), der auf Rainer Maria Rilke und Stefan George großen Einfluss nehmen sollte. Der Titel der Novelle, „Ein Kaktus erblüht“, weist aber auch auf eine andere Facette des dänischen Dichters hin: Schon früh an der Botanik interessiert, dissertierte er mit einer preisgekrönten Arbeit über Algen und übersetzte die „Entstehung der Arten“ von Charles Darwin ins Dänische, dessen Theorien er in seiner Heimat den Boden bereitete. Für die Natur hatte Jacobsen auch als Literat ein scharfes Auge. In seinen Werken übt er sich als genauer Beschreiber und grandioser Vermittler von Stimmungen. Dieser Hang kommt in den „Gurre-Liedern“ genauso zum Tragen wie sein an Darwin geschulter Zweifel an Gott, gegen den sich die männliche Hauptfigur Waldemar in aller Radikalität wendet.
#Sagenhaft
Was sich in den „Gurre-Liedern“ ereignet, geht auf Sagen aus dem mittelalterlichen Dänemark zurück. Die Geschichte von König Waldemar und seiner Geliebten Tove, die von der rachsüchtigen Königin ermordet wird, hat im Laufe der Zeit viele Wandlungen durchlaufen. Die Variante, die Jacobsen für seine 1868 verfassten Gedichte heranzog, bringt die Geschichte mit dem realen König Waldemar IV. in Verbindung, der 1375 auf Schloss Gurre starb. Aus einem anderen Sagenkreis stammt das Motiv der „Wilden Jagd“ der unerlösten Seelen von Waldemar und seiner Gefolgschaft, die nächtens durch die Lande ziehen. Mit dieser dramatischen Zuspitzung reichert Jacobsen den Basisstoff an. Weitere Ergänzungen betreffen das Personal der „Gurre-Lieder“. So fügte Jacobsen die Figur des einfältigen Bauern und des Klaus Narr ein, die ein gewisses ironisches Element in die ausweglose Geschichte bringen. Zentrales Moment des Textes ist der Botenbericht der Waldtaube, die am Ende des ersten Teils von der Ermordung Toves singt.
#EwigeRuine
Die Überreste von Schloss Gurre können bis heute rund 40 Autominuten nördlich von Kopenhagen besichtigt werden. Seit dem 16. Jahrhundert erinnern nur noch Mauern an die einst stolze Königsresidenz. Die Rezensionen im Internet reichen von „Schon oft dort gewesen. Immer wieder sehr beeindruckend“ bis „Kann man machen, muss man aber nicht“. Schönberg selbst ließ es sich 1923 im Zuge einer Dänemark-Reise nicht nehmen, einen Abstecher nach Gurre zu machen. Der Anlass seiner Reise in den Norden war ein Konzert, bei dem er neben frühen Liedern sowie der Kammersymphonie op. 9 auch das „Lied der Waldtaube“ dirigierte, das er für diesen Zweck extra für Kammerensemble arrangiert hatte.
#GemischteGefühle
Das Jahr 1913 sollte für Arnold Schönberg ein Wechselbad der Gefühle bringen. Mit der Uraufführung der spätromantisch schwelgenden „Gurre-Lieder“ im Großen Musikvereinssaal stellte sich sein mit Abstand größter Publikumserfolg ein. Ein gutes Monat später wurde derselbe Ort Schauplatz des sogenannten „Watschenkonzerts“, bei dem buchstäblich die Fetzen flogen. Ein Erfolg wider Willen? Nach der Uraufführung gab der Komponist zu Protokoll: „Wie üblich, wurde ich nach diesem großartigen Erfolg gefragt, ob ich glücklich sei. Aber ich war es nicht. Ich war ziemlich gleichgültig, weil ich voraussah, dass dieser Erfolg keinen Einfluss auf das Schicksal meiner späteren Werke haben würde.“ Immerhin betrachtete Schönberg, der sich vor dem Orchester, nicht aber vor dem Publikum verneigt haben soll, das Werk aber als Dokument seines künstlerischen Werdegangs: „Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung. Es zeigt mich von Seiten, von denen ich mich später nicht mehr zeige oder doch von einer anderen Basis. Es erklärt, wie alles später so kommen musste, und das ist für mein Werk enorm wichtig: dass man den Menschen und seine Entwicklung von hier aus verfolgen kann.“
„Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung.“ – Arnold Schönberg
#EiserneKetten
Als Abgesang auf das 19. Jahrhundert werden die „Gurre-Lieder“ gerne verstanden, in denen alles Bisherige zugespitzt und ausgereizt wird – unter anderem die Besetzung, die Mahlers 1910 uraufgeführte Achte, die „Symphonie der Tausend“, noch übertrifft. Vier Chöre und großes Orchester (10 Hörner!) sieht Schönberg vor. Unter dem großen Aufgebot an Schlaginstrumenten fallen Ratschen und „einige große eiserne Ketten“ auf. Bei den beiden Aufführungen mit Petr Popelka am 13. und 14. September werden etwa 400 Personen auf der Bühne mitwirken.
#StolzeSchüler
Dass Schönberg mit dem Publikumserfolg der „Gurre-Lieder“ haderte, ist das eine. Aber muss es für ihn nicht auch befremdlich gewesen sein, dass ausgerechnet seine Schüler und Mitstreiter Alban Berg und Anton Webern vor dem Komponisten der „Gurre-Lieder“ den Hut zogen? Webern sprach von einem „überherrlichen Werk“, das einen „unermesslichen Eindruck“ auf ihn gemacht habe. Berg brachte seinen Respekt mit einer 100-seitigen Werkbesprechung zum Ausdruck, in der er die weitverästelte motivische Arbeit bis ins kleinste Detail analysierte.
#VierMinuten
Im Zeitalter praktisch unbegrenzter digitaler Speicher- und Abspielmöglichkeiten mutet es kurios an, eine Aufnahme der rund zweistündigen „Gurre-Lieder“ nicht am Stück hören zu können, sondern lediglich in Abschnitten von jeweils vier Minuten. 14 Schallplatten umfasste die erste Aufnahme des Werks, die in kurzen Abständen gewendet und gewechselt werden mussten. Die musikalische und technische Pioniertat geht auf das Konto von Leopold Stokowski, der 1932 in Philadelphia die erste amerikanische Aufführung des Werkes mitschneiden ließ. Die Aufnahme genießt auch heute noch Kultstatus, obwohl es sich eine ganze Reihe berühmter Dirigenten seitdem nicht nehmen ließ, ebenfalls ihre Sicht auf die „Gurre-Lieder“ für die Ewigkeit festzuhalten. Von Rafael Kubelík bis Christian Thielemann reicht das Spektrum – im Zusammenhang mit den Wiener Symphonikern ist eine Einspielung unter Josef Krips aus dem Jahr 1969 zu erwähnen. Gundula Janowitz sang den Part der Tove, Christa Ludwig schlüpfte in die Rolle der Waldtaube.
#PetrPopelka
Als die „Gurre-Lieder“ im Musikverein aus der Taufe gehoben wurden, war Schönberg 38 Jahre alt. Der Zufall will es, dass der tschechische Dirigent Petr Popelka das Werk bei seinem Antrittskonzert als Chefdirigent der Wiener Symphoniker am Ort seiner Uraufführung im selben Alter dirigiert. Es begleitet und begeistert den Vielbeschäftigten allerdings schon deutlich länger. Zum ersten Mal kam er mit Schönbergs Quasi-Oratorium als blutjunger Kontrabassist in Prag in Berührung, wenig später spielte er es als Akademist des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Am Pult stand der damalige Chefdirigent des Orchesters, Mariss Jansons, der eine besonders innige Beziehung zu dem Werk pflegte, es sogar in Gurre selbst zur Aufführung bringen wollte. Vor einem guten Jahr übernahm Petr Popelka erstmals als Dirigent Verantwortung für diese großangelegte Komposition, er versammelte dafür in der Staatsoper in Prag die beiden Orchester, deren Chefdirigent er zu diesem Zeitpunkt war: die Radio-Orchester aus Oslo und Prag. Die Vorfreude auf die Aufführungen in Wien mit den Wiener Symphonikern ist jedenfalls enorm: „Es ist ein Traum, dieses mitreißende Werk, das aus logistischen Gründen nur selten gespielt wird, in so kurzer Zeit gleich an zwei Orten dirigieren zu dürfen: in Prag, wo es kein Geringerer als Alexander Zemlinsky erstmals zur Aufführung brachte, und in Wien, von wo es aus in die Welt ging.“
Freitag, 13. September 2024
Samstag, 14. September 2024
Festkonzert Arnold Schönberg 150
Wiener Symphoniker
Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Slowakischer Philharmonischer Chor
Ungarischer Nationaler Männerchor
Petr Popelka | Dirigent
Michael Weinius | Tenor
Vera-Lotte Boecker | Sopran
Sasha Cooke | Mezzosopran
Gerhard Siegel | Tenor
Florian Boesch | Bariton
Angela Denoke | Sprecherin
Arnold Schönberg
Gurre-Lieder