Göttliches, Menschliches: Ludwig van Beethoven, die Neunte Symphonie und die „Missa solemnis“
Von Thomas Leibnitz
15.04.2024
Es gibt die großen Werke der Musik – und es gibt auch die „ganz großen“, die „Menschheitswerke“. Wer würde daran zweifeln, dass zu ihnen Beethovens „Neunte“ und die „Missa solemnis“ gehören? Sicherlich, auch an ihnen hatte die zeitgenössische Kritik einiges auszusetzen, auch sie blieben nicht unwidersprochen – aber bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich die Überzeugung durch, man habe es hier mit uneinholbaren Höhepunkten dessen zu tun, was menschlicher Geist in Musik ausdrücken kann: Beethoven, der Gipfelpunkt des musikalisch Sagbaren. Und Werken wie der „Neunten“ oder der „Missa solemnis“ nähert man sich fortan nicht mit beiläufigem Interesse, sondern mit Ehrfurcht, Hingabe und der Scheu vor dem Großen.
Einiges von dieser Haltung lebt bis in die Gegenwart, und er hat wohl etwas für sich, dieser Respekt in einer großteils respektlosen Zeit. Doch wir täten Beethoven unrecht, würden wir übersehen (oder überhören), dass diese Werke nicht von einem „Denkmal“ geschrieben wurden, sondern von einem Menschen aus Fleisch und Blut. Es ist der Beethoven der Neunten Symphonie, der mit seiner Schwägerin Johanna einen erbitterten Sorgerechtsstreit um seinen Neffen Karl führt und dabei vor Zwangsmaßnahmen und Beschimpfungen nicht zurückschreckt. Es ist der Beethoven der „Missa solemnis“, der das große Werk nicht bloß aus idealistischen Motiven schreibt, sondern auch dessen „Vermarktung“ mit viel Eifer und Energie betreibt. Muss uns das stören? Nur dann, wenn wir ausblenden, dass der Bogen vom Großen zum Profanen, vom Kuss an die „ganze Welt“ bis zum Zählen der Groschen in der Kassa im „weiten Land“ der Seele wohl jedes Menschen Platz findet, auch in der eines großen Komponisten. Menschliches begleitet bereits die Entstehungsumstände beider „Menschheitswerke“, der Neunten Symphonie und der „Missa solemnis“.
Bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich die Überzeugung durch, man habe es bei der „Neunten“ und der „Missa solemnis“ mit uneinholbaren Höhepunkten dessen zu tun, was menschlicher Geist in Musik ausdrücken kann: Beethoven, der Gipfelpunkt des musikalisch Sagbaren.
Zu Beethovens Lebenszeit sieht es zunächst so aus, als sollte die „Neunte“ Teil eines symphonischen „Zwillingspaares“ werden. Bereits im Sommer 1817 nimmt Beethoven Verhandlungen mit der Londoner Philharmonic Society auf, die bei ihm zwei Symphonien bestellt. Er skizziert Entwürfe und Einfälle, und bald ist ihm klar, dass sein „Material“ nicht für zwei Werke ausreichen wird; doch an der Planung zumindest einer großen Symphonie hält er fest. Im Juli 1822 erkundigt er sich bei seinem Schüler Ferdinand Ries, was die Philharmonic Society für eine Symphonie zahlen würde, und man mag bei aller Verwunderung über solche Geschäftsorientierung bedenken, dass Beethoven ein Freischaffender ist, der vom Erlös seiner Kompositionen lebt. Dass die neue Symphonie mit einem Chorfinale enden soll, gehört zu seiner primären Konzeption, und bereits 1822 notiert er: „Finale Freude schöner Götterfunken“.
Im großen Finalsatz findet eine insgesamt viersätzige Symphonie ihren Höhepunkt und Abschluss. Gibt es einen übergreifenden Zusammenhang? Beethoven deutet ihn an, indem er im Einleitungsteil des Finalsatzes die übrigen Sätze kurz anklingen lässt. Man vernimmt im Zitat die majestätisch-dynamische Grundhaltung des ersten Satzes, die ausgelassene Energetik des – ausnahmsweise an zweiter Stelle stehenden – Scherzos, die ruhevoll-melancholische Sphäre des dritten Satzes. Keine dieser Haltungen, so scheint es, erfüllt umfassend die Bestimmung des Menschen, sich seinem Schicksal zu stellen; Beethoven schreibt in die Skizzen kurze Kommentare, und selbst das ruhevolle, friedliche Gelöstheit ausstrahlende Adagio hat nicht das letzte Wort: „auch dieses es ist zu zärtl. etwas aufgewecktes muss man suchen …“. Dieses „Aufgeweckte“ ist das Motiv der Freude, das den Finalsatz durchzieht und bestimmt. Das Freudenthema – es ist eines der berühmtesten und bekanntesten Themen der Musikgeschichte – zeichnet sich durch große Einfachheit in seiner stufenweisen Melodik und seiner lapidaren Rhythmik aus: „Freude“ ist bereits bei Schiller der zentrale Begriff, der ein überaus weites Spektrum des Menschlichen umfasst. Sie reicht von den Äußerungen heiterer Ausgelassenheit („Küsse gab sie uns und Reben“) bis zur Sphäre metaphysischer Ergriffenheit („Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“). Diesen weiten und heterogenen Bogen spannt Beethoven nun auch in seiner Musik, und so vereinigt der Finalsatz die so gegensätzlichen Gefühlslagen „orgiastischer“ Feierlaune und ergriffener Anbetung, symbolisiert durch „Sphärenklänge“ von überwältigender Klangwirkung. Und so wird der 7. Mai 1824, der Uraufführungstag der Neunten Symphonie im Wiener Kärntnertortheater, zu einer Sternstunde der Musik.
Profane Umstände begleiten auch die Entstehung der „Missa solemnis“, die Beethoven selbst als eine seiner bedeutendsten Schöpfungen einschätzt. Er hat ein Naheverhältnis zu Erzherzog Rudolph, dem Bruder des Kaisers; der Erzherzog ist nicht nur sein Schüler in Klavierspiel und Komposition, er zählt auch zu den Gönnern, die Beethoven ab 1809 eine hohe jährliche Rente aussetzen, um ihn in Wien zu halten. Als Beethoven erfährt, dass Rudolph zum Erzbischof von Olmütz ernannt wurde, schreibt er ihm, etwas überschwänglich: „Der Tag, wo ein Hochamt von mir zu den Feierlichkeiten für I.K.H. [Ihre Kaiserliche Hoheit] soll aufgeführt werden, wird für mich der schönste meines Lebens sein; und Gott wird mich erleuchten, dass meine schwachen Kräfte zur Verherrlichung dieses Tages beitragen.“ Er nimmt dieses „Hochamt“, die „Missa solemnis“, nun tatsächlich in Angriff – aber in solcher Breite, solchen Dimensionen, dass er nicht nur den Zeitpunkt der Bischofsinthronisation versäumt, sondern auch den Rahmen des Kirchlich-Liturgischen bei weitem sprengt. Erst 1823, drei Jahre nach der Inthronisation, erhält der Erzherzog ein Widmungsexemplar, was Beethoven aber nicht daran hindert, an adelige Subskribenten handschriftliche Teile der Messe exklusiv zu verkaufen und dennoch gleichzeitig mit sieben Verlegern zu verhandeln.
Kann der Text der Messe, das seit dem Tridentinischen Konzil unverändert feststehende „Ordinarium“, die Folie für die Äußerung aller Dimensionen des Menschlichen abgeben? Bei Beethoven kann er es. Denn beim Wort genommen, umspannt dieser altehrwürdige Text einen weiten Bogen der Emotionen: Von der Bitte um Erbarmen im „Kyrie“ zum Jubel des „Gloria“, von der Festigkeit des „Credo“ zur Verzweiflung des „Crucifixus“, von der Anbetung des „Sanctus“ zur flehentlichen Bitte des „Agnus Dei“. Und diese emotionale Ergriffenheit setzt Beethoven kompositorisch um; nicht bloß um eine feierliche „Vertonung“ dieses Textes geht es ihm, sondern um ganz persönliche Auseinandersetzungen eines Menschen mit seinem Gott. Einen dramatischen Anruf vernehmen wir: „Kyrie“ – Herr, höre uns, erbarme dich! Der Chor ruft es, aber auch die Einzelstimmen der Solisten; Einzelschicksal und Menschheitsschicksal, verbunden in der hochemotionalen Sprache der Musik. Gegen Ende des Werkes, im „Dona nobis pacem“ erlaubt sich der Komponist einen bildhaften Exkurs: Ein kurzes „Schlachtenbild“ schiebt er ein – als Zeitgenosse der Napoleonischen Kriege weiß er, was Krieg bedeutet. Und hier spricht er nicht nur für seine Zeit, sondern auch für künftige Generationen. Nicht zuletzt für unsere sehr reale Gegenwart.
Montag, 6. Mai 2024
Dienstag, 7. Mai 2024
Wiener Philharmoniker
Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Riccardo Muti | Dirigent
Julia Kleiter | Sopran
Alisa Kolosova | Mezzosopran
Michael Spyres | Tenor
Günther Groissböck | Bass
Ludwig van Beethoven
Symphonie Nr. 9 d-Moll, op. 125
Freitag, 24. Mai 2024
Samstag, 25. Mai 2024
Wiener Philharmoniker
Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Adam Fischer | Dirigent
Julia Kleiter | Sopran
Catriona Morison | Alt
Maximilian Schmitt | Tenor
Florian Boesch | Bass
Ludwig van Beethoven
Missa solemnis D-Dur, op. 123
Adam Fischer hat dankenswerterweise das Dirigat des rekonvaleszenten Herbert Blomstedt übernommen.