Digitale Zeitreise: Die Programmsammlung des Musikvereins ist online

© Archiv, Bibliothek und Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Die Programmsammlung, also die Sammlung von Programmzetteln und Programmheften, im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien reicht weit in die Geschichte und über das Gründungsjahr 1812 hinaus. Das jüngste Jahrhundert zurück bis ins Jahr 1924 war durch kontinuierliche Datenbankerfassung bereits online verfügbar. Ein großangelegtes und kürzlich abgeschlossenes Digitalisierungsprojekt macht die Sammlung in ihrer derzeitigen Gesamtheit auf der Website des Musikvereins erlebbar.

Von Johannes Prominczel

22.11.2024

Ein für die Musikgeschichte besonders wichtiger Bestand unseres Archivs ist die sogenannte Programmsammlung. Sie ermöglicht nichts weniger als eine Zeitreise in die Geschichte des Konzertwesens, lässt uns eintauchen in eine längst vergessene Welt. So gab es im biedermeierlichen Redoutensaal oder in der Winterreitschule der Wiener Hofburg bombastische Musikfeste: Hunderte Musikfreunde führten Werke wie Haydns „Schöpfung“ auf. Bei kleinen Kammerkonzerten, den sogenannten Musikalischen Abendunterhaltungen, finden sich illustre Mitwirkende, etwa Johann Nepomuk Nestroy als Bassist. Die jugendliche Clara Schumann zog bei ihrem Wien-Debüt die halbe Stadt in ihren Bann. Brahms, Bruckner und Dvořák dirigierten ihre eigenen Symphonien. Später begeisterten Toscanini, Furtwängler, Karajan und Bernstein das Publikum. Alles, was Rang und Namen hatte, gab – und gibt heute nach wie vor – Wien die Ehre, aufstrebende Wunderkinder, launenhafte Diven, Virtuosinnen und Virtuosen. Man trat im „alten“ Musikvereinsgebäude in den Tuchlauben auf, später im „neuen“, heutigen Musikverein, aber auch in anderen Sälen wie etwa dem für seine Akustik gerühmten Bösendorfersaal im längst abgerissenen Palais Liechtenstein in der Herrengasse.

Die Wiener Philharmoniker entwickelten sich vom primären Opernensemble zum führenden Universalorchester. Und in den Prüfungskonzerten der „Zöglinge“ des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien konnten sich künftige Stars die ersten Sporen verdienen. Es gab Skandale, Flops und vielumjubelte Darbietungen. Wären Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, nicht auch gern dabei gewesen, als Mahlers Neunte Symphonie am 26. Juni 1912 im Großen Musikvereinssaal erstmals zur Aufführung gelangte? Oder Jahre zuvor, 1867 im Großen Redoutensaal, die ersten drei Sätze von Brahms’„Deutschem Requiem“ oder 1886 Bruckners „Te Deum“, übrigens beide unter Beteiligung des Wiener Singvereins? Wie groß muss die Anspannung beim Publikum gewesen sein, unmittelbar vor der Uraufführung solcher Werke?

Die gedruckten Programme von heute präsentieren sich im Musikverein als Hefte in elegantem blauem Umschlag mit Goldprägung und in handlichem Format, sie bieten über die wichtigsten programmbezogenen Daten hinaus auf mehreren Dutzend Seiten auch Biographien der ausführenden Künstler:innen, Werkbesprechungen, Gesangstexte und oftmals weitere wertvolle Informationen, beispielsweise in den „Musikverein Nahaufnahmen“.
Im frühen 19. Jahrhundert sahen Programme anders aus: Oft beschränkte man sich darauf, den Programmablauf auf einem Anschlagzettel, etwa am Eingang zum Saal oder vor dem Konzertgebäude, auszuhängen. Frühe Programme bestehen nur aus handgroßen Zetteln, auf denen mitunter handschriftlich die Werke vermerkt sind. Auch spätere Programme im 19. Jahrhundert sind selten umfangreicher als zwei oder drei Blatt, selbst wenn man bald die Gesangstexte abdrucken ließ. Manche Konzerte sind sogar ausschließlich durch Saisonprogramme oder Veranstaltungshinweise dokumentiert.

Es ist wunderbar, einen derart großen Bestand im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde zu wissen. Was nützen allerdings die schönsten Programme, wenn es schwierig ist, sie zu benutzen? Seit Jahren wird im Musikverein daran gearbeitet, diese Programme auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im vergangenen Jahr erfuhr dieses Bestreben durch die Initiative „Kulturerbe Digital“ des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport neuen Schwung. Mithilfe einer Förderung durch die EU konnten die ältesten im Archiv vorhandenen Programme digital erfasst werden. Mehr als 23.000 Programme von 1771 bis 1924 können nun von jeder Musikfreundin und jedem Musikfreund online eingesehen werden. Ziel war es, die wichtigsten Daten auf den Programmen abzubilden: Datum, Ort, Veranstalter.
Erwähnenswert ist, dass versucht wurde, nicht nur die Programme jener Konzerte zu erfassen, die in den Sälen der Gesellschaft der Musikfreunde stattgefunden haben oder von der Gesellschaft organisiert wurden, sondern alle Programme, die in der Programmsammlung des Archivs aufbewahrt werden. Daher sind nicht nur Aufführungen in Wien, Österreich oder der Monarchie dokumentiert, sondern auch einzelne in Mexiko-Stadt (im Jahr 1865!), Tokio oder Buenos Aires.

Im Konzertarchiv auf der Website des Musikvereins sind freilich auch die Programme nach 1924 abrufbar. Die Programmdaten der Konzerte seit dieser Zeit wurden in den vergangenen vielen Jahren kontinuierlich in einer Datenbank erfasst, die dem Online-Konzertarchiv zugrunde liegt, sodass auch nach einzelnen Mitwirkenden, Komponist:innen und Werken gesucht werden kann.
Für die Forschung birgt das Konzertarchiv ein unerschöpfliches Potenzial. Bequem lässt sich recherchieren, wie sich die Programme im Laufe der Jahre geändert haben, welche Komponist:innen die Vergangenheit geprägt haben, heute aber vergessen sind, ob bzw. wie sich das Verhältnis zwischen Altem und Zeitgenössischem verändert hat und Ähnliches.
Das Konzertarchiv richtet sich jedoch nicht nur an Wissenschaftler:innen. Es lädt alle Interessierten ein, darin zu schmökern. Was für eine Zugabe hat die Solistin im „Philharmonischen“ vergangene Woche gespielt? – Welches Programm hat Daniel Barenboim vor zwei Jahren im Musikverein dirigiert? Wie oft standen in der vergangenen Saison Werke von Zemlinsky auf dem Programm? Und was wurde am Geburtstag meiner Tochter im Musikverein gespielt?

Ist das Konzertarchiv komplett? – Nein. Es ist nicht komplett. Oft konnte kein Veranstalter, manchmal auch kein Veranstaltungsort eruiert werden. Anhand von historischen Zeitungsberichten ließen sich weitere Informationen mit Sicherheit ergänzen. Und es gibt im Archiv weitere Programme, die im Rahmen von künftigen Projekten ergänzt werden könnten. Das hängt auch damit zusammen, dass unsere Programmsammlung nicht nur sehr umfangreich, sondern auch komplex ist. Vor allem aber ist sie nicht abgeschlossen. Sie wächst nach wie vor. Erst vor wenigen Wochen schenkte uns ein Musikfreund mehrere Kisten mit signierten Programmen, darunter einige Raritäten.
Das Konzertarchiv ist nicht komplett und nicht perfekt, aber es liefert eine gute Grundlage für die Forschung – und für eine kleine Zeitreise in die Geschichte des Konzertwesens.

 

Das Konzertarchiv im Überblick:

Mehr als 67.000 Konzerte sind in der Konzertdatenbank erfasst. Die Programme der mehr als 23.000 Konzerte von 1771 bis 1924 sind als Bilder erfasst.

Konzerte von 1771 bis 1880 und ab 1924 können auch nach Mitwirkenden, Komponist:innen, Werken etc. durchsucht werden. Mehr als 800 Konzerte kommen in jeder Saison hinzu.

Abrufbar unter musikverein.at, im Menü „Konzertarchiv“ auswählen, oder direkt unter musikverein.at/archiv/konzertarchiv

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