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Musikfreunde

Das Online Magazin

Mai 2, 2023

„Dieser göttliche Dämon …“

Gustav Mahlers Mitwelt und Nachwelt

Mahlers geistige Verwandtschaft mit Schostakowitsch bestimmt das zwei­­t­ägige Gastspiel der Münchner Philharmoniker unter Tugan Sokhiev. Reine Mahler-Programme dirigieren bis Saisonende dann noch Daniele Gatti und Christian Thielemann.

„Statt eines Ganzen, Abgeschlossenen, wie ich geträumt, hinterlasse ich Stückwerk, Unvollendetes: wie es dem Menschen bestimmt ist.“

Gustav Mahler

„Und da stand er nun … bleich, mager, klein von Gestalt, länglichen Gesichts, die steile Stirn von tiefschwarzem Haar umrahmt, bedeutende Augen hinter Brillengläsern, Furchen des Leides und des Humors im Antlitz, das, während er mit einem anderen sprach, den erstaunlichsten Wechsel des Ausdrucks zeigte, eine gerade so interessante, dämonische, einschüchternde Inkarnation des Kapellmeisters Kreisler, wie sie sich der jugendliche Leser E.Th.Hoffmann’scher Phantasien nur vorstellen konnte.“

So, wie Bruno Walter seine erste Begegnung mit dem noch jungen Gustav Mahler beschrieben hat, wirkt der energische, von Sendungsbewusstsein erfüllte Dirigent auf seine Zeitgenossen, und es fällt schwer, nicht gleichzeitig an die Musik Mahlers zu denken – an ihre „Furchen des Leides und des Humors“, aber auch an ihre Wandlungsfähigkeit, an die oft unvermittelten Gegensätze und Kontraste, die sie bestimmen und an der sich sowohl Begeisterung wie Ablehnung entzünden.

An Gustav Mahler scheiden sich stets die Geister – bereits während seiner Lebenszeit fällt die Einschätzung seines Wesens und seiner Bedeutung ganz unterschiedlich aus, und auch in den Jahrzehnten nach seinem Tod ändert sich daran nicht viel; uneingeschränkte Verehrung stand und steht neben Stimmen, die ihm den Rang des Künstlerischen schlichtweg absprechen. Das hat mit dem Neuen zu tun, das Mahler als Komponist in die Musiksprache der Zeit einbringt, vor allem aber mit der Kompromisslosigkeit, die ihm in künstlerischen Dingen eigen ist und ihm nicht nur Freunde schafft. Seine Zeit als Wiener Operndirektor, die als eine der Glanzepochen in der Geschichte dieser Institution gilt, ist von heftigen Konflikten bestimmt, denn gegen so manche „Tradition“, gegen so manche Äußerungsform „österreichischer Gemütlichkeit“ zieht er unbarmherzig zu Felde – um am Ende resigniert zu bekennen: „Statt eines Ganzen, Abgeschlossenen, wie ich geträumt, hinterlasse ich Stückwerk, Unvollendetes: wie es dem Menschen bestimmt ist.“

Trotz großer Erfolge als Komponist zu Lebzeiten ist Mahler überzeugt davon, erst in Zukunft verstanden zu werden. Seine Zeit, so meint er, werde einst kommen. Die unmittelbare Nachwelt gibt zunächst wenig Grund zu solch optimistischer Perspektive. Mahlers „durch übermäßige Länge ermüdende Symphonien“ seien keineswegs Zeugnisse „stärkerer Eigenart“ und müssten als Beispiele eines „geistreichen Eklektizismus“ angesehen werden; so Riemanns „Musik-Lexikon“ von 1916. In den Jahren danach verschärft sich der Ton noch mehr; „völkische“ Autoren machten Mahlers jüdische Herkunft zum Thema und urteilen unter diesem Aspekt über sein Werk, das wahrhaft „deutscher“ Kunst nicht das Wasser reichen könne: „… Anstelle des inneren Umbildens und Umgestaltens tritt in Wirklichkeit … ein nervöses, übersteigertes, sozusagen ‚hysterisches’ Sichemporrecken mit dem krampfhaften Aufgebot aller zersplitterten, nicht aus einer seelischen Kraftquelle fließenden Faktoren…“ (Martin Friedland über Gustav Mahler, 1923). So ist durchaus der Boden bereitet, auf dem sich die nationalsozialistische „Kulturpolitik“ etablieren kann, innerhalb derer für das Gesamtwerk Mahlers – wie auch für das aller anderen jüdischen Komponisten – kein Platz mehr vorgesehen ist.

Nach dem katastrophalen Ende des „Tausendjährigen Reiches“ steht die Mahler-Rezeption daher 1945 wieder am Beginn. Wird es gelingen, neue Generationen für dieses komplexe Lebenswerk zu interessieren? Zunächst sieht es kaum danach aus, aber ab 1960 gehen die Aufführungszahlen deutlich nach oben – eine regelrechte und dauerhafte „Mahler-Renaissance“ setzt ein, und nicht zuletzt Leonard Bernsteins begeistertes Engagement trägt dazu bei, Mahlers Musik weltweit populär zu machen. Die Prophezeiung des Komponisten, seine Zeit werde kommen, scheint sich erfüllt zu haben, und dennoch bleibt manch kritische Frage. Entspricht der modischen Mahler-Begeisterung ein wirklich adäquates Verständnis der Intentionen des Komponisten? Genügt es, das berühmte „Adagietto“ als ein Stück Stimmungsmusik aufzufassen, ohne nach seiner dramaturgischen Funktion innerhalb des Ganzen der Fünften Symphonie zu fragen? Und gelingt es, Mahlers Musik, in der sich die Bruchlinien seines Zeitalters abbilden, als geradezu prophetischen Vorgriff auf die ähnlich brüchige „Gemengelage“ der Gegenwart zu verstehen?

Tatsächlich erweist sich Mahler in der Komplexität seiner Musiksprache als „Zeitgenosse der Zukunft“, wie ihn eine verbreitete Biographie pointiert benennt. Ist er damit ein einmaliger „Fall“, oder gibt es auch andere Beispiele solch zeitübergreifender Gültigkeit? Man denkt an Richard Strauss, der seine Zeit auf andere Weise abbildet, der weniger Ironie und Brüchigkeit, sondern eher dynamische Bejahung verkörpert und auch damit seine Entsprechung in der Gegenwart findet. Mahler und Strauss – bereits zu ihrer Zeit werden sie als Antipoden gesehen, was sie allerdings nicht daran hindert, eine recht freundschaftliche Beziehung zu pflegen und einander Achtung zu bekunden. An der Gegensätzlichkeit ihrer künstlerischen Standorte ändert dies nichts. Alma Mahler erinnert sich: „Mahler und Strauss sprachen gerne miteinander, vielleicht, weil sie nie derselben Meinung waren.“

Als Komponist führt Mahler die Gattung der Symphonie auf einen Gipfelpunkt, zugleich aber in Dimensionen, die kaum mehr eine Steigerung erlauben – es ist „späte Kunst“, befrachtet mit den Erfahrungen jahrhundertelanger Musikentwicklung, Dichtung und Philosophie. Klopstock, Goethe, Nietzsche – sie alle kommen in Mahlers Symphonik zu Wort, und dennoch geht es dem Komponisten nicht um literarische und philosophische Reflexionen an sich, sondern um das elementare Erleben von Natur, um den Menschen im Spannungsfeld zwischen „irdischem Leben“ und „Ewigkeit“. In diesem Sinne ist das Programmatische bei Mahler zu verstehen, das nichts mit der realistischen Schilderung von Vorgängen zu tun hat, sondern Ähnliches anstrebt wie Beethoven, der zu den Naturimpressionen seiner Sechsten Symphonie, der „Pastorale“, anmerkt: „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“.

Dass Mahler das Bedürfnis hat, solche Empfindungen tatsächlich inmitten der Natur in Musik zu übersetzen, nimmt nicht wunder, und so konzentriert er sein Schaffen bloß auf die Sommermonate, in denen er sich – frei von den zermürbenden Tagessorgen des Operndirektors – in ländlicher Abgeschiedenheit dem Komponieren hingibt. Zeugnisse dieses Wunsches nach schöpferischer Einsamkeit sind die „Komponierhäuschen“ am Attersee, am Wörthersee und in Toblach, Holzhütten inmitten des Waldes, die ihn von aller Zivilisation, selbst von den Menschen seiner engsten Umgebung, abschirmen. Fluchtpunkte eines Getriebenen, der zwischen seiner Sehnsucht nach Liebe und dem Bedürfnis nach Einsamkeit ein Leben lang nach der „Mitte“ sucht.

Was sich in Mahlers Werken als Ringen um höchst persönliche Fragen manifestiert, strahlt nicht nur auf seine Gegenwart aus, sondern auch auf die Nachwelt und nicht zuletzt auf deren Komponisten. „Komponistenbrüder im Geiste“: So wird Mahlers geistige Verwandtschaft mit Dmitrij Schostakowitsch treffend charakterisiert. Mahler sei für ihn der wichtigste Komponist des Jahrhunderts, bekennt Hans Werner Henze; zweifellos besteht eine Affinität zwischen Mahlers Symphonik und der Klangwelt Henzes, die ihr Vorbild nicht verleugnet. Aber auch engagierte Verfechter des Neuen, die Mahlers Beharren auf den tonalen Fundamenten in ihrem Schaffen nicht nachvollziehen – György Ligeti, Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann, um nur einige zu nennen –, zeigen sich berührt von der radikalen Subjektivität der Mahler’schen Tonsprache.

Als „göttlichen Dämon“ sieht Alma Mahler ihren Mann, noch 1910, als ihre Beziehung zu ihm längst in eine schwere Krise geraten ist. Und dieses Faszinosum hat bis in die Gegenwart seine Kraft bewahrt.

Thomas Leibnitz

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