Die „Musicalisch-Bachische Familie“: Ein Programm mit dem Concentus Musicus Wien
Von Peter Wollny
21.11.2024
„Johann Sebastian Bach, gehöret zu einem Geschlechte, welchem Liebe und Geschicklichkeit zur Musick, gleichsam als ein allgemeines Geschenck, für alle seine Mitglieder, von der Natur mitgetheilet zu seyn scheinen. So viel ist gewiß, daß von Veit Bachen, dem Stammvater dieses Geschlechts, an, alle seine Nachkommen, nun schon bis ins siebende Glied, der Musik ergeben gewesen, auch alle, nur etwan ein Paar davon ausgenommen, Profession davon gemacht haben.“ Mit diesen Worten beginnt der 1754 von Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola veröffentlichte Nachruf auf Johann Sebastian Bach. Bach, der „weltberühmte“ Komponist und Virtuose, wird hier erstmalig, zugleich aber sehr nachdrücklich in den familiären und zeitgeschichtlichen Kontext eingeordnet, der die Grundlage seines Künstlertums bildete.
Unter den großen Musikerfamilien des 17. und 18. Jahrhunderts nimmt die Bach-Familie hinsichtlich Zahl und Bedeutung der aus ihr hervorgegangenen Musiker eine überragende Stellung ein. Über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg bekleideten ihre Mitglieder an zahlreichen Stätten Thüringens einflussreiche musikalische Ämter und prägten maßgeblich das kulturelle Leben dieses Landstrichs. Ihr Wirkungsraum erstreckte sich über das Gebiet der ernestinisch-sächsischen Herzog- und Fürstentümer Eisenach, Gotha, Meiningen und Weimar, der Grafschaften Schwarzburg-Arnstadt, Schwarzburg-Sondershausen und Hohenlohe-Gleichen sowie der zum kurmainzischen Territorium gehörigen Stadt Erfurt. Von diesen dichtgestreuten kleineren und mittleren Höfen, aber auch von den städtischen Kirchen und den ihnen angegliederten Schulen wurde die überaus reiche Musikpflege der Region getragen.
Die ersten Berufsmusiker der Familie traten gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf, ihr letzter namhafter Vertreter war der 1845 verstorbene Wilhelm Friedrich Ernst Bach. In den ersten Generationen dominierten Spielleute, Stadtpfeifer und einfache Hofmusiker; etwa ab der Mitte des 17. Jahrhunderts begann mit den ersten Organisten der Familie ein steter sozialer und künstlerischer Aufstieg. Bereits in der nächsten Generation sind auch Familienangehörige mit akademischer Bildung anzutreffen, die das – neben musikalischen auch pädagogische Qualifikationen voraussetzende – Kantorenamt bekleideten.
Bei den Organisten und Kantoren der zwischen 1650 und 1700 aktiven Generationen lassen sich auch die frühesten Zeugnisse kompositorischer Tätigkeit nachweisen. An der Schwelle zum 18. Jahrhundert waren Mitglieder der Familie auch mit den seinerzeit höchsten musikalischen Ämtern des höfischen Kapellmeisters und städtischen Musikdirektors betraut: Johann Sebastian Bach war von 1717 bis 1723 Kapellmeister in Köthen und danach „Director Musices“ in Leipzig, Johann Ludwig Bach stieg in der Hierarchie der Meininger Hofkapelle vom einfachen Musikus bis zum Kapellmeister auf, und Johann Bernhard Bach hatte mehr als viereinhalb Jahrzehnte das Organistenamt der Eisenacher Georgenkirche inne und wirkte daneben als Cembalist in der Hofkapelle von Herzog Johann Wilhelm von Sachsen-Eisenach.
Leitende städtische Musiker finden sich auch in der Generation der Bach-Söhne: Wilhelm Friedemann Bach bekleidete das Musikdirektorat in Halle und sein Bruder Carl Philipp Emanuel die entsprechende Position in Hamburg. Die beiden Söhne aus Johann Sebastian Bachs zweiter Ehe schlugen höchst unterschiedliche Wege ein: Während Johann Christoph Friedrich Bach sein gesamtes Berufsleben als Hofmusiker an der kleinen Residenz der Grafen von Schaumburg-Lippe in Bückeburg verbrachte, zog es seinen jüngeren Bruder Johann Christian zunächst nach Mailand und später in die internationale Metropole London. Erst mit dem Niedergang der Hofkultur und der institutionalisierten Musikpflege der Städte und Kirchen gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlosch allmählich auch die Bedeutung der Musikerfamilie Bach.
Johann Sebastian Bachs eigenes Schaffen ist in den musikalischen Traditionen seiner Vorfahren fest verwurzelt. Zugleich ist bereits in den frühesten erhaltenen Kompositionen der Drang spürbar, die Grenzen des mitteldeutschen Stils zu erweitern und neue Ausdrucksbereiche zu erschließen. Unternimmt man heute den Versuch, sich ein Bild von Johann Sebastian Bach zu machen, so nimmt dieses unweigerlich die Züge des bekannten Leipziger Altersporträts von Elias Gottlob Haußmann an. Dass wir bei Bach also vornehmlich an den Leipziger Thomaskantor denken, ist kein Zufall. Denn lediglich für diese, seine letzten 27 Lebensjahre umfassende Periode können wir uns zutrauen, halbwegs verbindliche Aussagen über Persönlichkeit und Schaffen dieses letztlich rätselhaften Künstlers zu treffen: Zu Beginn der Leipziger Zeit können wir das Entstehen der Kantatenjahrgänge und deren Erstaufführungen beinahe von Woche zu Woche verfolgen, und aus den späteren Jahren kennen wir die großen Kompositionsprojekte (wie die Oratorien, die Serie der gedruckten „Clavier-Übungen“, die monothematischen Zyklen der Spätwerke), wissen von Reisen sowie von Kontakten mit Verwandten, Freunden und Kollegen.
Weitaus schemenhafter stellen sich indes die Lebensstationen Bachs vor Antritt des Leipziger Amtes dar. Schon die Söhne Bachs konnten nur achselzuckend auf die „unvermeidlichen Lücken“ in der Biographie ihres Vaters verweisen, auf „abentheuerliche Traditionen“ und „jugendliche Fechterstreiche“; konkrete Kenntnisse fehlten bereits ihnen. Wie wir uns den jungen Bach vorzustellen haben, ist also höchst ungewiss. Einige der lückenhaft und zufällig überlieferten Akten deuten auf einen ungestümen, gerne gegen die gesellschaftlichen Konventionen der Zeit verstoßenden und Vorgesetzten gegenüber auf Konfrontationskurs gehenden Musiker, der nur für seine Kunst lebt.
So wechselvoll Bachs Biographie auch verlief, sein Personalstil zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Konstanz aus. Diese ist gekennzeichnet durch die unablässige und systematische rhythmische, melodische und satztechnische Erkundung des thematischen Materials – der Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel sprach von einer „Variation im Großen“ – und dessen kontrapunktische Durchdringung. Bach hat zeitlebens nach der Entdeckung der „verborgensten Geheimnisse der Harmonie“ und damit – in seinem Verständnis – nach musikalischer Vollkommenheit gestrebt.
„So viel ist gewiß, daß von Veit Bachen, dem Stammvater dieses Geschlechts, an, alle seine Nachkommen, nun schon bis ins siebende Glied, der Musik ergeben gewesen …“
Aus dem Nachruf auf Johann Sebastian Bach
Die künstlerische Wirkungszeit der Bach-Söhne, das mittlere 18. Jahrhundert, bildet eine nur schwer abzugrenzende Epoche der deutschen Musikgeschichte. Die Protagonisten dieser Zeit folgten einer Ästhetik, die Originalität als höchstes künstlerisches Ideal ansah. Zugleich waren sie aber Kinder eines Zeitalters, in dem das Lernen nach vorgegebenen Mustern das gesamte pädagogische System bestimmte. So stand das Schaffen dieser Komponisten in einem von vielfältigen Bindungen an Traditionszusammenhänge und ausgeprägtem Ringen um Einmaligkeit bestimmten Spannungsfeld. Dieser Konflikt ist von den Betroffenen vielleicht meist nur unterschwellig wahrgenommen worden; an der Oberfläche überwog das Bewusstsein, die Vergangenheit abgestreift zu haben.
Die vier als Komponisten hervorgetretenen Bach-Söhne wurden schon zu Lebzeiten als führende Repräsentanten des neuen Zeitalters angesehen, und ihre Werke gelten bis heute als Paradigmen des von ihrer Generation entwickelten Stils. Alle vier haben diesen Wandel deutlich gespürt und aktiv begleitet. Für die Musik wurde damit die Kategorie des „guten Geschmacks“ entdeckt, dessen Merkmale in zahlreichen grundlegenden Traktaten beschrieben wurden. Dessen systematische Entwicklung wirkte sich schließlich auch auf das Komponieren selbst aus, das zunehmend zu einer Wissenschaft wurde: Die Formulierung von individuellen und unverwechselbaren Themen, die treffende Deklamation eines vorgegebenen Textes, das Umsetzen eines bestimmten Affekts, die Erweiterung der Ausdruckspalette – dies sind nur einige der Bereiche, über die ein Komponist des empfindsamen Zeitalters nachzudenken hatte.
Das Neuartige und „Empfindsame“ manifestierte sich vor allem in der Instrumentalmusik – in der Klaviersonate, die eine ganz neue Sensibilität für musikalische Logik schuf, sodann im Solokonzert und schließlich in der Symphonie, die später die für Haydn, Mozart und Beethoven maßgebliche Gattung wurde. Weitgehend unbelastet von erdrückenden Traditionen prägten die Bach-Söhne in ihren Werken eine musikalische Sprache, mit der sich die Epoche nachhaltig identifizierte.
Samstag, 7. Dezember 2024
Concentus Musicus Wien
Stefan Gottfried | Dirigent
Johann Bernhard Bach
Ouvertüre Nr. 1 g-Moll
Johann Christoph Friedrich Bach
Sinfonia d-Moll
Johann Sebastian Bach
Sinfonia D-Dur, BWV 1045
Carl Philipp Emanuel Bach
Symphonie h-Moll, Wq 182/5
Johann Sebastian Bach
Ouverture Nr. 3 D-Dur, BWV 1068