Die Melodie des Sommers: Elīna Garanča im Interview
Von Markus Siber
14.05.2025
Sie geben im Musikverein einen Liederabend, der sich thematisch um den Sommer rankt. Was verbinden Sie mit dieser Jahreszeit?
Die Frage führt direkt in meine Kindheit, in der der Sommer immer Freiheit bedeutete. Bis heute endet das Schuljahr in Lettland schon Ende Mai – gefolgt von drei Monaten Ferien. Für die Eltern ist das immer eine große Herausforderung, vielfach müssen da die Großeltern einspringen. Mein Bruder und ich verbrachten als Kinder viele Wochen bei Oma und Opa am Land. Bis weit in den August hinein hatten wir dreckige Füße mit schwarzen Nägeln, weil wir so viel Zeit unter freiem Himmel verbrachten. Bevor die Schule wieder anfing, wurden wir dann gründlich gewaschen, gekämmt und zurechtgemacht. Ein besonderes Ereignis war immer die Johannisnacht. Wir haben das Haus mit Blumen und Zweigen geschmückt, heimlich Bier getrunken und selbstgemachten Käse gegessen. Diese Erdverbundenheit hat mich stark geprägt. Auch heute noch brauche ich diesen Kontakt zur Erde. Ich liebe es, Samen zu säen und dann zu sehen, wie sie als Kartoffeln oder Tomaten wieder aus der Erde kommen. Es ist schön, wenn man sieht, dass die eigene Arbeit Früchte trägt – beim Singen ist das nicht anders.
In den Liedern, die Sie im Musikverein singen werden, geht es oft um Träume. Darf ich fragen, wovon Elīna Garanča träumt?
In mir leben zwei Personen: die Elīna und die Garanča. Auch wenn sie sich im Alltag überschneiden, sind meine künstlerischen Träume oft andere als die persönlichen. Da gilt es, einen Mittelweg zu finden. Künstlerisch gesehen war die Amneris in Verdis „Aida“ die Erfüllung eines großen Traums. Für die nächsten Jahre habe ich mir das Ziel gesetzt, einen neuen „Everest“ zu erklimmen. Es fühlt sich ein wenig so an, als würde ich denselben Berg erneut besteigen – diesmal jedoch von einer anderen Seite.
Als Elīna, als Frau und Mutter, träume ich davon, noch mutiger zu sein und außerdem mehr für meine Töchter da zu sein. Sie sind jetzt elf und dreizehn Jahre alt – und ich genieße es sehr, an ihrem Heranwachsen teilzuhaben. Es beeindruckt mich, wie stark und überzeugend sie sein können, wenn sie für etwas kämpfen – auch wenn es sich gegen die Überzeugungen der Eltern richtet.
Außerdem merke ich, dass ich älter werde. Das Repertoire, das ich singe, wird immer dramatischer und fordert auch emotional viel mehr. Ich hoffe, dass ich für die restlichen zehn Jahre meiner Karriere das richtige Gleichgewicht finde, um allen meinen Rollen gerecht zu werden – auf der Bühne und zu Hause.
Bei Ihrem Liederabend werden Sie in vier Sprachen singen. Ist das nicht anstrengend?
Ganz im Gegenteil! Für mich ist es viel einfacher, in mehreren Sprachen zu singen. Der schwierigste Liederabend, den ich je hatte, war einer, bei dem ich ausschließlich deutsches Repertoire gesungen habe – Brahms, Mahler, Wagner und Alban Berg. Alles auf Deutsch, das war ein echter Albtraum! Je mehr Sprachen man hat, desto abwechslungsreicher wird der Abend – auch für mich als Sängerin. Jede Sprache hat ihre eigenen Melodien, Klangfarben und Zwischentöne, die es mir ermöglichen, die Intensität und das Interesse des Publikums aufrechtzuerhalten.
„In mir wohnen tiefes Drama, die Sehnsucht nach Selbstfindung, stete Entwicklung, nagende Zweifel und die unaufhörliche Suche nach Antworten.“
Elīna Garanča
Eine der vier Sprachen wird Lettisch sein. Wie kam es dazu, dass Sie vermehrt in Ihrer Muttersprache singen?
Das wollte ich immer schon machen, jetzt traue ich mich es endlich. Die lettische Musik verdient es jedenfalls, einem breiteren Publikum bekannt zu werden. Sie hat eine besondere Note, die sich aus verschiedenen Einflüssen ergibt: Brahms und Wagner waren in Riga zu Gast, lettische Komponisten gingen wiederum in St. Petersburg bei Rimskij-Korsakow und Tschaikowskij in die Schule oder holten sich in Italien Anregungen. Jeder Pianist, der mit mir arbeitet, ist überrascht, wie reich an Farben und Stilrichtungen lettische Lieder sind.
Einige der Liedtexte basieren auf sogenannten Dainas, von denen es, glaubt man den Schätzungen, über eine Million in Lettland gibt. Was kann man sich darunter vorstellen?
Dainas sind kurze poetische Texte, die entfernt an japanische Haikus erinnern. Man kann sie als poetische Momentaufnahmen bezeichnen, die in wenigen Zeilen das Wesentliche beschreiben. Sie erzählen von Liebe, Schmerz, Freude, Natur, vom Leben und Sterben – und das in einer unglaublich kompakten und tiefgründigen Form. Lettland hat eine stark mythologische Vergangenheit, und unsere Kultur wurzelt in einer alten vorchristlichen Tradition. Bei uns gibt es den Sonnengott, den Windgott oder das Glück als göttliches Wesen – das erinnert ein wenig an die griechische Mythologie. Man könnte sogar sagen, dass Dainas eine gewisse Weissagungskraft haben, so wie bei Nostradamus, der seine Prophezeiungen ebenfalls in kurzen Versen verfasst hat.

Sie haben die lettischen Liedtexte fürs Programmheft selbst ins Deutsche übersetzt. Ist das eine neue Leidenschaft von Ihnen?
Das hat mir – im Team mit meiner Assistentin Linda Molnarova – tatsächlich großen Spaß gemacht. Viele dieser alten Begriffe stammen aus der Geschichte Lettlands. Es sind Wörter, die man nur kennt, wenn man die Werke unserer großen Dichter und Schriftsteller aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert gelesen hat. Diese Übersetzungsarbeit hat mir bewusst gemacht, wie vielschichtig die lettische Sprache ist.
In Lettland leben nicht nur Letten, es gibt auch eine starke russische Minderheit von etwa 25 Prozent. Wie haben Sie die Stimmung im Land im Zuge des Angriffskriegs gegen die Ukraine erlebt?
Anspannung ist an allen Ecken und Enden spürbar. Ich spreche selbst fließend Russisch und bekomme daher auch mit, wie abweichend die Informationen gefiltert werden und wie sich das auf die Gesellschaft auswirkt. In Lettland hört man auf den Straßen, im Fernsehen oder bei öffentlichen Veranstaltungen, wie unterschiedlich die Perspektiven sind. Als erschreckend empfinde ich es, wenn ich höre, wie einige russischsprachige Menschen Riga als „ihre“ Stadt bezeichnen. Das weckt natürlich Ängste, weil diese imperiale Denkweise und dieser Überlegenheitsanspruch uns an die Besatzungszeit erinnern. Lettland fühlt mit der Ukraine so stark mit, weil wir genau wissen, was es bedeutet, seine Freiheit zu verlieren. Fast jede lettische Familie hat Erfahrungen mit Deportationen und Unterdrückung gemacht.
Doch trotz dieser Spannungen sehe ich es als wichtig an, Brücken zu bauen, solange das auf gegenseitigem Respekt basiert. Es ist nicht einfach, weil die Wunden der Vergangenheit noch offen sind, aber wir müssen versuchen, als Gesellschaft zusammenzuhalten.
Wenn Sie sich ein Werk wünschen könnten, das speziell für Ihre Stimme komponiert wird – was wäre das für ein Werk?
Ich stelle mir etwas wie eine griechische Tragödie vor. In mir wohnen tiefes Drama, die Sehnsucht nach Selbstfindung, stete Entwicklung, nagende Zweifel und die unaufhörliche Suche nach Antworten. Das sind Themen, die jede Frau in meinem Alter beschäftigen – besonders in einer Welt, die immer noch sehr patriarchalisch geprägt ist. Ich sehe mich in einer Rolle, die all diese inneren Kämpfe ausdrückt. Etwas, das sowohl stimmlich als auch emotional extrem herausfordernd ist. Daran mit einer Komponistin oder einem Komponisten zu arbeiten würde mich sehr reizen.
Dienstag, 27. Mai 2025
Elīna Garanča | Mezzosopran
Malcolm Martineau | Klavier
Ottorino Respighi
O falce di luna
Serenata indiana
I tempi assai lontani
Hector Berlioz
Les Nuits d’eté, op. 7 („Sommernächte“)
Alban Berg
Sieben frühe Lieder
Werke für Klavier solo sowie Lieder von Alfrēds Kalniņš, Jānis Mediņš, Jāzeps Mediņš und Jāzeps Vītols