Die Kraft der Erinnerung: Mit Zubin Mehta in der Bar
Von Markus Siber
19.12.2024
„Sind Sie sicher, dass Sie mit mir sprechen wollen?“ Schon bei der Interviewanfrage zeigte sich Zubin Mehta einigermaßen überrascht über das Interesse an seiner Person. „Was soll ich Ihnen denn noch erzählen?“, fragt er in der Bar des Hotels Imperial denn auch. Es gebe ja nichts Neues zu berichten. Hätten seine jüngeren Kolleginnen und Kollegen denn nicht mehr Aufmerksamkeit verdient? Doch Zubin Mehta ist nicht nur ein besonders herzlicher, sondern auch ein ausgesprochen höflicher Mensch. Deshalb steht er bereitwillig Rede und Antwort. Er spricht mit Bedacht, zunächst noch etwas zögerlich. Doch die durch das Gespräch wachgerufenen Erinnerungen bringen schnell Schwung in seine Erzählung und eindeutig auch Freude in sein Gesicht.
Wenn einer eine Reise tut, so kann er, wenn er es für sinnvoll hält, was erzählen. Zubin Mehtas Lebensreise, die den bis heute Vielbeschäftigten bald in sein 90. Jahr führt, ist weltumspannend und besonders reich an Facetten. Ein wichtiges, weil nachhaltig prägendes Kapitel nimmt darin die Musikstadt Wien ein. 1954 kam er als Achtzehnjähriger nach Wien, in seine musikalische Erweckungsstadt, von der aus vieles seinen Ausgang nahm. Der Musikverein als Sehnsuchtsort, in den er, durch die Stadt schlendernd, durch Zufall gewissermaßen hineingestolpert war, um unversehens in einer Probe Herbert von Karajans zu landen; der Stehplatz als Schule des Hörens, auf dem er sich während seiner Studienjahre an der damaligen Musikakademie, unterrichtet vom legendären Hans Swarowsky, allabendlich Inspiration holte. Doch auch von der Bühne aus konnte er sich von den musikalischen Größen der Zeit einiges abschauen. Denn als Mitglied des Wiener Singvereins hatte er freien Blick auf die besten Dirigenten der damaligen Zeit. Zu der Chorperspektive kam jene des Kontrabasses dazu, auf dem er es ebenfalls zur Meisterschaft brachte. Bis heute hat er als ehemaliges Mitglied des Musikakademie- und des Jeunesse-Orchesters die Bassstimme wichtiger symphonischer Werke in den Fingern – von Beethovens „Missa solemnis“ bis hin zu Franz Schmidts „Buch mit sieben Siegeln“.
1961 erfolgte im Musikverein sein Debüt am Pult der Wiener Philharmoniker – der Anfang einer langanhaltenden Beziehung. Das erste Stück, das er mit dem Orchester auf Platte aufnahm, steht nun auch bei seinem nächsten Konzert in Wien auf dem Programm: Bruckners Neunte Symphonie. „Mein Bruckner-Bild war damals stark von Bruno Walter geprägt, von dem ich in Los Angeles Anfang der 1960er Jahre kurz vor seinem Tod noch wichtige Impulse bekam“, erinnert er sich heute. „Aber kennengelernt habe ich Bruckner in Wien, bei Konzerten und bei vielen Proben mit Karl Böhm, Josef Krips und auch Rudolf Moralt. Im Bombay meiner Jugend gab es schlichtweg keine Bruckner-Platten, und das dortige Orchester hätte es auch nie gewagt, Bruckner zu spielen.“ Mehta schien die österreichische Musiktradition damals wie ein Schwamm in sich aufgesogen zu haben. Daniel Barenboim meinte einmal, dass man beim Hören der Aufnahme zur Überzeugung komme, der Dirigent müsse in der Nähe von Linz geboren sein, nicht aber in Bombay. Bleibt – trotz der Verinnerlichung europäischer Kultur – noch die Frage nach dem „lieben Gott“, dem die Symphonie gewidmet ist. Ist Gott für den Parsen Mehta ein anderer als für den Katholiken Bruckner? „Gott ist Gott“, sagt Mehta knapp. Etwas eingehender führt er einen Gedanken aus, der ihn schon länger beschäftigt: „Die Tatsache, dass Bruckner diese Symphonie Gott gewidmet hat, imponiert mir bis heute. Ich kenne keinen anderen Komponisten oder Künstler, der etwas Vergleichbares gewagt hätte. Für mein Verständnis hat Bruckner in seiner Religiosität dann aber doch ordentlich übers Ziel geschossen. Denken Sie an seine peniblen Aufstellungen, wie viele Vaterunser er am Tag gebetet hat.“ Auch Mozart habe, wie es in einem seiner Briefe heißt, „Gott immer vor Augen“ gehabt. Bei Bruckner, so Mehta, nehme das aber andere Dimensionen an.
„Leider habe ich ‚Parsifal‘ nie dirigiert. Vielleicht ist es zu spät. Aber das würde ich schon noch gerne machen.“
Mozart. Spätestens jetzt wird klar, dass es eigentlich Zubin Mehta ist, der das Gespräch führt. Die vorbereiteten Fragen erübrigen sich zumeist und können getrost weggepackt werden. Mit Mozart nennt er jedenfalls intuitiv den Namen des zweiten Komponisten, der bei seinem nächsten Zusammentreffen mit den Wiener Philharmonikern im Jänner auf dem Programm steht. Als Solist kommt Pinchas Zukerman ins Spiel, den er für seine große Musikalität und Disziplin schätzt und mit dem er viel aufgenommen hat, auch kammermusikalisch. Schuberts „Forelle“, eingespielt mit Daniel Barenboim, Itzhak Perlman, Pinchas Zukerman und Jacqueline du Pré, ist eines jener raren audiovisuellen Dokumente, die Zubin Mehta als Kontrabassisten ins Bild rücken. Als besonderes Mozart-Erlebnis nennt Mehta eine g-Moll-Symphonie unter Bruno Walter im Musikverein des Jahres 1960. Mehta hatte, wie so oft im Musikverein, inkognito eine Probe belauscht. Erst Monate später konnte er sich bei Bruno Walter in Los Angeles persönlich vorstellen und ihm für dieses eindrückliche Ereignis danken. Doch auch Walter hatte für Mehta eine Überraschung parat: „Sind Sie nicht der junge Herr, der vor einigen Wochen in Wien eine beeindruckende Dritte Symphonie von Brahms dirigiert haben soll? Ich habe in der ‚Furche‘, die ich mir nach Amerika kommen lasse, eine sehr schöne Besprechung gelesen.“
Von den USA und Bruno Walter führt das Gespräch dann aber gleich wieder nach Wien und zu Mehtas geliebten Philharmonikern. „Es ist jetzt bereits die dritte Generation, die ich in Wien dirigiere“, fährt Mehta fort. „Als ich angefangen habe, saßen noch meine Professoren von der Musikakademie im Orchester, mit denen ich natürlich per Sie war. Heute ist vieles anders, aber an der besonderen Art, Musik zu machen, hat sich in diesem Orchester nichts geändert. Diese Weitergabe von der einen zur nächsten Generation ist in Wien wirklich einmalig.“ Auch er habe von diesem unglaublichen Wissens- und Erfahrungstransfer ungemein profitieren können. Eine ganze Reihe philharmonischer Namen kommt ihm in den Sinn, die sein Leben musikalisch und menschlich bereichert haben: „Willi Boskovsky und Walter Barylli waren zwei prägende Konzertmeister, denen ich sehr nahestand. Auch andere Stimmführer wie Rudolf Streng an der Bratsche oder Emanuel Brabec am Cello betrachte ich bis heute als meine Lehrer.“
Während des Gesprächs fällt auf, dass Zubin Mehta immer wieder auch den Namen seines eigentlichen Lehrers an der Musikakademie, des Dirigenten Hans Swarowsky, einwirft, bei dem unter anderem auch Claudio Abbado und Mariss Jansons in die Schule gingen. Hat es ihn nicht auch gelegentlich gereizt, selbst zu unterrichten und seinen Erfahrungsschatz an jüngere Generationen weiterzugeben? Mehtas Antwort ist entschieden: „Kaum. Mir fehlt dazu schlichtweg die Geduld.“ Er werde von jungen Menschen zwar immer wieder um Rat gebeten, aber seine Antwort sei immer die gleiche: „Lernt die Partitur! Alles muss von der Partitur und der Handschrift des Komponisten ausgehen. Wer eine Symphonie von Mozart gut dirigieren will, sollte auch seine Lieder, seine Kammermusik und seine Opern kennen und sich immerwährend damit beschäftigen.“
Am Ende des Gesprächs bietet sich dann doch noch unvermutet die Gelegenheit, eine der vorbereiteten, aber längst weggelegten Fragen vorzubringen:
„Gibt es einen musikalischen Wunsch, Maestro, den Sie sich noch gern erfüllen würden?“
„Leider habe ich ‚Parsifal‘ nie dirigiert. Vielleicht ist es zu spät. Aber das würde ich schon noch gerne machen.“
Dienstag, 14. Jänner 2025
Wiener Philharmoniker
Zubin Mehta | Dirigent
Pinchas Zukerman | Violine
Wolfgang Amadeus Mozart
Konzert für Violine und Orchester G-Dur, KV 216
Anton Bruckner
Symphonie Nr. 9 d-Moll