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Anne-Sophie Mutter
Anne-Sophie Mutter weiß, was es bedeutet, starke Mentorinnen und Mentoren zu haben – und setzt sich heute selbst mit großem Engagement für den musikalischen Nachwuchs ein. Am 24. Juni beschließt sie die Musikvereinssaison mit „Mutter’s Virtuosi“.
„Jedes Konzert ist für mich ein Fest der Gemeinschaft.“
Anne-Sophie Mutter
Als sie im Jahr 1976 als Geigenwunder die ersten Schritte in die Weltkarriere machte, war sie noch ein Kind. Heute ist Anne-Sophie Mutter eine Ikone des modernen Virtuosentums, die berühmteste Violinistin der Welt, Mentorin, Lehrerin, Gründerin und Visionärin.
Ihre Anfänge lesen sich wie ein Märchen. Den ersten Musikunterricht erhält sie mit fünf Jahren am Klavier und wechselt sodann auf ihren eigenen Wunsch hin zur Geige. Nach einem halben Jahr Unterricht und dem Besuch eines Konzerts mit David Oistrach weiß sie, wo sie hingehört und dass die Geige ihr Instrument sei – und gewinnt sogleich beim renommierten Wettbewerb „Jugend musiziert“ zwei Erste Preise: einen „mit besonderer Auszeichnung“ in der Sektion Geige, den anderen im Fach „Klavier vierhändig“ gemeinsam mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder.
Eine derartige Jahrhundertbegabung kann in den 1970er Jahren in Deutschland sogar ein öffentliches Amt beeindrucken: Das Baden-Württembergische Kultusministerium befreit das junge Mädel von der allgemeinen Schulpflicht. Neben einem allgemeinen Privatunterricht kann sich Anne-Sophie Mutter nun ganz ihrem Geigenunterricht bei Erna Honigberger, einer Schülerin des legendären Carl Flesch, widmen und gewinnt auch den nächsten „Jugend musiziert“-Wettbewerb gleich wieder. Als Erna Honigberger stirbt, wechselt Anne-Sophie Mutter zu Aida Stucki ans Konservatorium Winterthur und bleibt ihr bis zu ihrem Tod 2011 verbunden.
Stucki verdankt sie die Grundlagen ihrer Kunst und womöglich auch ihren verlässlichen inneren Kompass, der sie bei all dem Starkult um ihre Person nicht richtungslos werden lässt. Der Einfluss ihres berühmtesten Mentors, Herbert von Karajan, ist natürlich ebenfalls kaum zu überschätzen. Als dieser die Dreizehnjährige mit einem Solorecital bei den Festwochen Luzern erlebt, holt er sich das junge „Wunder“, wie er die Geigerin nennt, als Solistin zu seinen Berliner Philharmonikern bei den Salzburger Pfingstfestspielen. Die erste gemeinsame Plattenaufnahme folgt schon im Jahr darauf. Zahlreiche weitere Konzerte und Plattenaufnahmen schließen sich an und begründen in den 1980er Jahren Anne-Sophie Mutters Weltkarriere.
Karajan habe ihr alle Türen geöffnet, schwärmt die Geigerin, die im Sommer ihren 60. Geburtstag feiern wird, in Interviews bis heute. Die Begegnung mit ihm sei ein Riesengeschenk, aber auch eine Riesenherausforderung gewesen. Denn: „Auch wenn alle Türen offen waren, spielen musste ich schon selber. Natürlich hatte Karajan musikalisch immer recht. Von seiner Menschenführung habe ich viel gelernt. Ich hatte als Solistin das Glück, von ihm immer sehr klug geführt zu werden. Er wusste genau, wie viel er intellektuell und emotional an einen jungen Menschen herantragen konnte. Und was einen erdrücken würde.“
Zum Beispiel bewahrte Karajan sie davor, einen Exklusivvertrag mit einem Plattenlabel zu unterschreiben. Eine Festlegung auf drei oder sogar fünf Jahre im Voraus könne die eigene Kreativität nur behindern. Daran hält sich Anne-Sophie Mutter bis heute: „Wenn Sie exklusiv verpflichtet sind, dann machen Sie Dienst nach Vorschrift“, sagte sie kürzlich in einem Interview, „das ist wie die Legehenne, die täglich ihre zwei Eier legen soll. Das ist nichts für Künstler.“
Sie hat aber auch früh bereits ein sicheres Gespür dafür, wo sie ihrem übermächtigen Mentor besser davonstürmt, zum Beispiel, weil das Tempoempfinden einer Sechzehnjährigen anders tickt als das eines Pultstars um die siebzig. Wie Karajan bei einer Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern den Schlusssatz von Mendelssohns Violinkonzert dirigiert, scheint ihr viel zu langsam. Da prescht sie geigerisch los, lässt irgendwann das Orchester weit hinter sich, das nicht den Mut hat, sich gegen seinen Chefdirigenten zu stellen, und versucht ihren künstlerischen Alleingang anschließend mit Charme und einer wenig glaubhaften Begründung wieder geradezubiegen. Die feurige Lebenslust dieser Musik lässt sie nicht los („Allegro molto appassionato heißt ja auch etwas!“) und so nimmt sie, da Karajan nicht zu überzeugen ist, das Konzert später noch einmal auf, mit Kurt Masur.
Neben den unzähligen Verbindungen zu Orchestern, Solisten und Dirigenten von Weltrang und der jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit Kammermusikpartnern wie dem Pianisten Lambert Orkis gibt es im künstlerischen Leben von Anne-Sophie Mutter noch eine weitere richtungsweisende Begegnung. Zweiundzwanzig ist die am Repertoire von Bach bis Beethoven geschulte Star-Geigerin, als der Basler Dirigent und Mäzen Paul Sacher bei dem polnischen Komponisten Witold Lutosławski ein Violinkonzert für sie in Auftrag gibt. Ein Jahr später wird „Chain 2“ für Violine und Orchester in Zürich von ihr aus der Taufe gehoben. Damals sei aus ihrem „Baum ein weiterer Ast“ gewachsen, erinnert sich Anne-Sophie Mutter. Es war die Initialzündung für ihre leidenschaftliche Liaison mit der zeitgenössischen Musik. Um die dreißig Werke sind ihr bis heute gewidmet worden, von Wolfgang Rihm, Henri Dutilleux, Sofia Gubaidulina oder auch André Previn – mit dem Anne-Sophie Mutter, nachdem sie in erster Ehe mit zwei kleinen Kindern früh verwitwet war, von 2002 bis 2006 verheiratet war.
„Heutzutage sehe ich keine Dirigenten mehr, die ähnlich dezidiert und leidenschaftlich junge Sänger oder Instrumentalisten fördern, wie Karajan das über Jahrzehnte getan hat“, erklärte Anne-Sophie Mutter ihr eigenes vielseitiges Engagement kürzlich. „Deshalb finde ich es wichtig, dass ich es tue. Ich könnte natürlich noch mehr erreichen, wäre ich eine Dirigentin.“ Früh hat Anne-Sophie Mutter begonnen, ihre Berühmtheit für die Förderung des Nachwuchses einzusetzen. 1987 gründete sie die Rudolf-Eberle-Stiftung zur Förderung junger Streicher. Aus der 2008 ins Leben gerufenen Anne-Sophie Mutter Stiftung zur Unterstützung des musikalischen Spitzennachwuchses gingen bereits Musikerinnen und Musiker wie Daniel Müller-Schott, Arabella Steinbacher und Roman Patkoló hervor. Seit 2010 konzertiert auch ihr Ensemble „Mutter’s Virtuosi“ regelmäßig auf Tourneen – mit Mutter selbst als prima inter pares.
Hartnäckig und mit einigem Erfolg setzt sie sich in ihrer Wahlheimat München auch für die Verbesserung des Musikunterrichts an Grundschulen und Kindergärten ein. Wenn sie erklärt, es gehe ihr stets darum, mit Musik etwas zu bewirken, dann ist das keine Floskel, sondern grundehrlich – und keineswegs naiv. Anne-Sophie Mutters Überzeugung, dass Musik die Menschen zwar nicht besser machen, sie aber wohl das Zuhören und das Wahrnehmen von Zwischentönen lehren könne, ist heute aktueller denn je. Sie hat nicht nur angesichts des Krieges, der in der Mitte Europas tobt, eine neue Dringlichkeit bekommen, sondern auch angesichts eines gesellschaftlichen Klimas, in dem die Grundregeln differenzierter Kommunikation zunehmend nicht mehr verstanden, wenn nicht gar mit Füßen getreten werden. „Der Ukraine-Krieg hat uns durchlässiger und empathischer werden lassen“, sagte sie jüngst. „Die Situation sollte zu mehr Dankbarkeit führen für alles, was wir haben. Jedes Konzert ist für mich ein Fest der Gemeinschaft.“ Recht hat sie!
Ein Text von Julia Spinola