Das Wunder der kleinen Dinge: Hugo Wolf und sein „Italienisches Liederbuch“
Von Joachim Reiber
23.01.2025
„Wir haben beide lange Zeit geschwiegen,/ Auf einmal kam uns nun die Sprache wieder …“ Welche Sprache? Welche Worte? Was ist es, das sich aus dem Schweigen löst? Der Text, den Hugo Wolf hier vertont hat, in einem von 46 Liedern seines „Italienischen Liederbuchs“, spricht von Engeln, die „herabgeflogen – mit ihnen ist der Frieden eingezogen“. Freilich: Was die Literatursprache so bietet, all ihre hübschen Bilder und glatten Reime verwandeln sich in Wolfs Musik so tief und innig, dass man von „Vertonung“ nicht mehr sprechen mag. In nur 21 Takten wird ein Seelenraum geöffnet, der das Wortsprachliche weit hinter sich lässt. Was will man dazu noch sagen? Außer: Der Frieden, von dem hier gesungen wird, ist nicht von dieser Welt.
Die Welt, in die Hugo Wolf so viel Zartes brachte, verlangte das Laute. Sie gierte nach dem Großen. Industrie und Imperialismus, Börsenlust und Boulevardgepränge, Monumentalität und Maschinenkrach – in solchem Lärm ging das 19. Jahrhundert zu Ende. Musste die Kunst da nicht auch groß aufspielen, um überhaupt gehört zu werden? 1893 wurde Gustav Mahler gefragt, „ob es denn eines so großen Apparates wie des Orchesters bedarf, um einen großen Gedanken auszudrücken“. Und der Komponist, der gerade im Begriff stand, seine Zweite Symphonie zu vollenden, bejahte: „Wir Modernen brauchen einen so großen Apparat, um unsere Gedanken, ob groß oder klein, auszudrücken“ – und das auch, so Mahler, „weil unser Auge im Regenbogen immer mehr und mehr Farben und immer zartere und feinere Modulationen sehen lernt“ und „weil wir, um in den übergroßen Räumen unserer Concertsäle und Opern von den Vielen gehört zu werden, auch einen großen Lärm machen müssen“.
Ungefähr zur selben Zeit komponierte Hugo Wolf sein „Italienisches Liederbuch“ – 1890/91 entstand der erste Teil, 1896 der zweite. Das Lied, das er der Sammlung voranstellte, klang wie seine Antwort auf die Frage. „Auch kleine Dinge können uns entzücken“, das war sein Plädoyer gegen das Laute, stählern Starke und Große. „Langsam und sehr zart“, dahinstreichend und streichelnd über Arpeggien des Klaviers, singt die Weise von der Weisheit: „Bedenkt, wie gern wir uns mit Perlen schmücken, sie werden schwer bezahlt und sind nur klein.“ Der Regenbogen, ja das Universum, gespiegelt in einer winzigen Perle – das war die künstlerische Welt des Hugo Wolf.
Und Mahler: der Antipode? War er, gleich alt wie Wolf und bei weitem erfolgreicher als er, sein großer Gegenspieler? Man sollte die Zuspitzung nicht zu weit treiben, denn wer wollte das Zarte, Stille bei Mahler bestreiten, das Fragile an der Grenze zum Schweigen auch bei ihm, in seinem symphonischen Kosmos wie im Lied? Im Gegenzug dann auch bei Wolf der Versuch, sich im Großen und Lauten vernehmlich zu machen. 1886 legten die Wiener Philharmoniker Wolfs „Penthesilea“ aufs Pult – der Komponist, der sich bei der Durchspielprobe im Großen Musikvereinssaal verborgen hielt, erlebte die vielleicht schlimmste Demütigung seines Lebens. Mit schallendem Gelächter quittierten die Philharmoniker diese „Symphonische Dichtung für großes Orchester“ frei nach Kleist, Dirigent Hans Richter erklärte vor der feixenden Musikerschar: „Meine Herren, ich hätte das Stück nicht zu Ende spielen lassen – aber ich wollte mir den Mann anschauen, der es wagt, so über Meister Brahms zu schreiben.“
„Auch kleine Dinge können uns entzücken …“
In einer Zeit, die aufs Große und Laute aus war, erschloss Hugo Wolf eine Welt der feinsten, zartesten Töne.
Das war, um es nüchtern zu sagen, eine gar nicht so überraschende Konsequenz aus der Rezensententätigkeit des jungen Wolf. Als Kritiker des „Salonblatts“ heulte er laut – kein Wortgetöse konnte ihm schrill genug sein, wenn es etwa gegen Brahms ging, „die Leimsiederein, diese ekelhaft schalen, im Grund der Seele verlogenen und verdrehten Sinfonien von Brahms“. In Wiens besseren Kreisen, den Salons der Saturierten, amüsierte man sich köstlich über den verbalen Krachmacher, den man sich einige Zeitlang hielt. Ein Freund und Förderer Wolfs zahlte dem Herausgeber des „Salonblatts“ genau die Summe, die der dann wieder als Gage an Wolf zahlte: aus Verlagssicht ein Nullsummenspiel zum Gaudium der Leserschaft. Wolf stieg nach zweieinhalb Jahren aus. Im Jahr darauf, 1888, erlebte er draußen, vor den Toren Wiens in Perchtoldsdorf den Schaffensrausch mit Mörike, unfassbare Seligkeiten im Liederschreiben: „… ich bin so überglücklich, wie ein überglücklicher König“. Er war und blieb ein einsamer König. Und oft auch nur, ganz ohne alles Königliche: furchtbar einsam.

Seine Individualität war nicht vermittelbar, sein Außenseitertum nicht verkäuflich. Markt und Masse blieben ihm verschlossen, er stand, wo auch immer, quer zum System. Eine Korrepetitorenstelle am Salzburger Stadttheater war seine einzige fixe Anstellung als Musiker. Nur knapp zwei Monate hielt er durch. Schulabschluss hatte er keinen: Drei Gymnasien, in Graz, St. Paul und Marburg an der Drau, konnten oder wollten den Schwierigen nicht halten. Aus dem Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, das er 1875, im gleichen Jahr wie Gustav Mahler, bezog, flog er nach gut einem Jahr. „Entlassen am 6 November 1876 wegen brüsken Benehmens“ – so steht es in der Matrikel, die im Archiv des Hauses aufbewahrt wird. In den „Daten aus meinem Leben“ – ebenfalls als Autograph im Archiv des Musikvereins – notierte Wolf: „Plötzlich Conservatorium verlassen.“ Wie es wirklich zuging, lässt sich nicht mehr detailgenau sagen. Ein Drohbrief, der dem Direktor des Instituts „scherzhaft“ sein nahes Ende ankündigte und (fälschlich) mit „Hugo Wolf“ gezeichnet war, dürfte nicht allein ausschlaggebend gewesen sein. „Brüskes Benehmen“ deutet auf eine offen ausagierte Aufsässigkeit.
Noch nicht einmal 17 Jahre alt, begann der Verstoßene nun ein prekäres Leben als „freier Musiker“ – „frei“ sein hieß: abhängig von Freunden und Förderinnen, die es gut mit ihm meinten, ihm Unterschlupf boten, ihm das eine oder andere Geschäft zuschanzten, Reisen finanzierten, ihn unterstützten. Nicht wenige dieser Wohlmeinenden schockierte er – auch da durch „brüskes Benehmen“. Die Mitte fehlte ihm, um die er in einem seiner Mörike-Lieder so inbrünstig beten ließ („doch in der Mitten liegt holdes Bescheiden“) – er war hin- und hergeworfen zwischen den Extremen, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, doch ohne das Glück der Liebe, die er dauerhaft nicht finden konnte. „Vor allem werde ich mir die Weibsen vom Leibe halten. Die sollen nur mehr en canaille von mir behandelt werden“, schrieb er, nun schon nicht mehr zurechnungsfähig und dem Wahnsinn verfallen, 1897 aus der Privatirrenanstalt des Doktor Svetlin. Die Syphilis, die er sich als junger Mann in Wien eingehandelt hatte, zerstörte ihn. „Progressive Paralyse“ lautete die Diagnose.
Dass der latent lauernde Wahnsinn just in der Konfrontation mit Gustav Mahler ausbrach, war auf tragische Weise bezeichnend. Mahler, designierter Direktor der Hofoper, empfing den Jugendfreund im September 1897. Wolf erwartete sich die Aufführung seiner einzigen Oper „Corregidor“, doch Mahler winkte ab: In der ersten von ihm verantworteten Saison sei leider kein Platz für Wolfs Oper. Der Zurückgewiesene bewältigte diese Enttäuschung nicht mehr. Besessen von der fixen Idee, er sei Direktor der Hofoper geworden, irrlichterte er durch die Stadt, offenbar dem Wahnsinn verfallen. Schockierte Freunde veranlassten seine Einweisung: Unter dem Vorwand, als frisch bestallter Hofoperndirektor sei er zum Antrittsbesuch beim Obersthofmeister geladen, ließen sie Wolf in eine Kutsche verfrachten, die ihn hinter Anstaltsmauern brachte. Sein Zustand besserte sich etwas, er kam nochmals frei und reiste – erstmals in seinem Leben – nach Italien. Das Meer, der Süden – wohin es ihn künstlerisch gezogen hatte, dort war er nun leibhaftig. Zu spät. „Ich glaube überhaupt, mit mir ist’s aus. Ich lese nichts, musiziere nichts, denke nichts – kurz, ich vegetiere.“ Nach einem Suizidversuch ließ er sich im Oktober 1898 auf eigenes Verlangen in die Niederösterreichische Landesirrenanstalt einliefern. Man tat, was man konnte, Freunde finanzierten seine Unterbringung in der 1. Klasse, doch sein qualvolles Sterben war nicht aufzuhalten. Viereinhalb Jahre des schrecklichen Verfalls bis zum erlösenden Tod im Februar 1903.
„Und in meiner Brust gewaltsam/ Fühl ich Flammen sich empören,/ Die den Frieden mir zerstören,/ Ach der Wahnsinn fasst mich an!“ Den Ausbruch nahm er vorweg, erschütternd direkt in einem der bewegendsten Lieder des „Italienischen Liederbuchs“, doch es glückte da auch die Besänftigung. Wolf ließ, ganz gegen seine sonstigen Prinzipien in diesem Zyklus, den Anfang wiederholen, dies unsagbar schöne „Benedeit die sel’ge Mutter,/ Die so lieblich dich geboren,/ So an Schönheit auserkoren,/ Meine Sehnsucht fliegt dir zu!“ Ja, unsagbar schön …
Ist es still geworden um Hugo Wolf? Und wenn es so wäre, es wäre so schlimm nicht, war das Stille doch immer um ihn und in ihm, im Innersten seiner Kunst. Im Musikverein freilich hat diese Kunst einen Ort gefunden. In der Nachkriegszeit war es der leidenschaftliche „Wolfianer“ Erik Werba, der sich hier am Flügel unermüdlich für den Komponisten einsetzte – vor nunmehr 50 Jahren begleitete er Edith Mathis und Peter Schreier beim „Italienischen Liederbuch“. Der wundersame Irrgarten der Liebe, den Wolf in diesen köstlichen Miniaturen durchwandelt, zog auch noch andere sängerische Traumpaare in den Musikverein, unter ihnen Irmgard Seefried und Anton Dermota, Lucia Popp und Hermann Prey, Diana Damrau und Jonas Kaufmann. Auf ihren Spuren folgen nun, begleitet von Joseph Middleton, zwei Junge mit den schönsten Stimmen aus dem lyrischen Fach: Louise Alder (Sopran) und Mauro Peter (Tenor). Am 27. Februar im Brahms-Saal: Hugo Wolf und das Wunder der kleinen Dinge.
Donnerstag, 27. Februar 2025
Louise Alder | Sopran
Mauro Peter | Tenor
Joseph Middleton | Klavier
Hugo Wolf
Italienisches Liederbuch