Das Bild in Mozarts Kopf und der Klang in unseren Ohren: Mozarts Requiem in den Musikverein Perspektiven
Von Daniel Ender
23.12.2024
„Das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so dass ich’s hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geist übersehe, und es auch gar nicht nacheinander wie es hernach kommen muss, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmaus! Alles das Finden und Machen geht in mir nur wie in einem schönstarken Traume vor: aber das Überhören, so alles zusammen, ist doch das Beste.“
1815 erfuhren die Leser:innen der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, wie Mozart komponiert habe. Das obige Zitat hat nur einen kleinen Schönheitsfehler: Es lässt sich nicht nachweisen, dass es tatsächlich von Mozart stammt. Wohl aber berichtete er in einem Brief an seinen Vater über die Arbeit an „Idomeneo“ 1780: „Komponiert ist schon alles – aber geschrieben noch nicht.“ Ob auch bei seinem Requiem schon alles in seinem Kopf komponiert war? Über diese Frage haben sich viele ihrerseits den Kopf zerbrochen, und viel diskutiert wurde auch über die Vervollständigung des Fragments durch Joseph von Eybler und Franz Xaver Süßmayr – vor allem darüber, ob die Qualität dieser Arbeit auf derselben Höhe sei wie Mozart.
Mozarts Fragment und seine Vervollständigung bilden den Angelpunkt eines Abends, der sich nach einer Idee von Anton Zeilinger ganz um das menschliche Hören dreht. Dabei geht es zunächst um grundlegende Fragen des Hörens und der Wahrnehmung: Wie filtert unser Ohr heraus, was für uns von Bedeutung ist? Und kann unser Gehirn Informationen ergänzen, die akustisch womöglich gar nicht existieren? Gemeinsam mit Bernhard Jakoby, dem Leiter des Instituts für Mikroelektronik und Mikrosensorik der Johannes Kepler Universität in Linz, wird Zeilinger in der ersten Hälfte des Abends psychoakustische Experimente mit dem Publikum durchführen. Da kann man etwa im Goldenen Saal Töne hören, die gar nicht erklingen, den Eindruck haben, bestimmte Tonhöhen wahrzunehmen, die in Wirklichkeit nicht schwingen: Denn unser aller Hören ist es gewohnt, Töne zu ergänzen. Unser Gehirn gestaltet die Wahrnehmung ständig aktiv mit. Das Hören ist wesentlich komplexer, kreativer und eigenständiger, als wir aufgrund unserer Alltagserfahrungen glauben könnten.
Nach dieser Schärfung der Wahrnehmung und der Erfahrung einer aktiven Ergänzung von Tönen durch das Gehirn geht es im zweiten Teil des Abends um eine andere Form der Vervollständigung: In der Musikgeschichte gibt es einige berühmte Fragmente: Johann Sebastian Bachs „Die Kunst der Fuge“, die „Unvollendete“ von Franz Schubert, Giacomo Puccinis „Turandot“, Anton Bruckners 9. und Gustav Mahlers 10. Symphonie oder Alban Bergs „Lulu“ – über all diese Werke oder vielmehr ihre Ergänzungen durch andere wurde viel diskutiert und auch gestritten, doch über keines so anhaltend wie über das Requiem von Wolfang Amadé Mozart mit seiner mythenumrankten Entstehungsgeschichte.
Zahlreiche weitere Vervollständigungsversuche folgten auf Süßmayrs komplettierte Partitur, die in der Praxis bis heute unangefochten dominiert, obwohl sie viel in der Kritik stand. Im Gespräch Zeilingers mit Stefan Gottfried, dem Leiter des Concentus Musicus, und anderen Musiker:innen bzw. Musikwissenschaftler:innen wird es um die Frage gehen, wie dieses unvollständige Werk ergänzt wurde und welche anderen Möglichkeiten außer Süßmayrs Version denkbar erscheinen. Dabei wird auch die Frage im Raum stehen, ob sich die Ergänzung durch das Hören und die Ergänzung eines fragmentarisch hinterlassenen Werks miteinander vergleichen lassen. Der Große Musikvereinssaal wird zum Experimentalraum, der an diesem sehr speziellen Abend spannende Einblicke in die Natur- und Geisteswissenschaft, in die Psychoakustik sowie in Mozarts Werkstatt ebenso wie in jene der Vervollständiger von Mozarts Requiem miteinander verbindet.
Sonntag, 12. Jänner 2025
Anton Zeilinger
Bernhard Jacoby
Concentus Musicus Wien
Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Stefan Gottfried | Dirigent
Solist:innen-Ensemble
Wolfgang Amadeus Mozart
Fragment und Vollversion des Requiems d-Moll, KV 626 (Auszüge)
Live-Audio-Experimente