Brückenbauer zwischen den Kulturen: Hans Bethge und die Musik

© Metropolitan Museum of Art, CC0 / Wikimedia Commons
Iván Fischer dirigiert am Pult der Wiener Philharmoniker Gustav Mahlers „Lied von der Erde“, das auf altchinesischen Versen basiert, die Hans Bethge, in gigantischen Auflagen verbreitet, ins Deutsche übertrug. Gerhard Lauer ordnet den Mittler zwischen den Kulturen ein, der mit seinen Nachdichtungen auch viele andere große Komponisten inspirierte.

Von Gerhard Lauer

02.06.2025

In ihrer Autobiographie „Mein Leben“ schildert Alma Mahler, wie der befreundete Hofrat Theobald Pollak der Familie ein Exemplar von Hans Bethges „Chinesischer Flöte“ geschenkt hat: „Er brachte mir die kostbarsten Leckerbissen, Bücher, Noten. Und so kam er einmal mit Bethges ‚Chinesischer Flöte‘, einer Sammlung von Gedichten, vor allem vom Li-Tai-Pe. Die Gedichte entzückten mich, und ich las sie Gustav Mahler immer wieder vor, bis er daraus, Jahre später, ‚Das Lied von der Erde‘ machte.“
In Alma Mahlers Erinnerungen kommt alles zusammen, was Bethge in der Zeit der Belle Époque ausgemacht hat. Mit der größten Selbstverständlichkeit beschenkte man sich damals mit Büchern, Noten und Gedichtbänden, las sich gegenseitig aus Bethges Nachdichtungen altchinesischer Lyrik vor und sprach über den Tang-zeitlichen Dichter Li-Tai-Pe so vertraut wie über Hölderlin oder Dauthendey. Bethges Gedichte und überhaupt die Künste zählten geradezu notwendigerweise zur Haushaltung eines ernsthaften Lebens um 1900.
Hans Bethge war spätestens mit dem Erfolg seiner 1907 erschienenen Gedichtsammlung „Die chinesische Flöte“ unter kunstsinnigen Bürgerinnen und Bürgern ein geläufiger Name. Die Sammlung erreichte eine Auflage von mehr als hunderttausend Exemplaren und erschien in dem tonangebenden Verlag des Jugendstils, dem 1901 gegründeten Insel Verlag. Bethge hatte schon als Gymnasiast in Dessau, wo er 1876 geboren war, begonnen, Gedichte zu schreiben. Er studierte anschließend neuere Sprachen und Philosophie zunächst in Halle, dann auch in Erlangen und Genf, wurde promoviert, bevor er als Lehrer für deutsche Sprache einige Jahre in Barcelona arbeiten sollte. Schon hier verkehrte er in Künstlerkreisen mit Malern wie Ramón Casas und Kunstkritikern wie Miquel Utrillo rund um die avantgardistische Kunstzeitschrift „Pèl & Ploma“. 1901 gab er den Lehrerberuf auf und ließ sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Erste Gedichte erschienen in rascher Folge, dann im Jahr je zwei Neuerscheinungen, darunter auch Essays etwa über die Künstlerkolonie Worpswede oder über Hölderlin, Reisetagebücher, Novellen, Gedichtanthologien und immer öfter auch Nachdichtungen der Lyrik der Völker der Welt. Bethge konnte sich als Schriftsteller etablieren. Manche seiner Ausgaben wurden illustriert, Vorzugsausgaben seiner Novellen sogar auf Ganzpergament gedruckt und mit Kopfgoldschnitt versehen – ganz Ausgaben der Belle Époque.

Bethges Absicht ist es nicht, die Fremdheit abzubilden, sondern eine Wahlverwandtschaft mit alten und fernen Kulturen herzustellen.

Bethge war befreundet mit vielen Künstlern wie Wilhelm Lehmbruck, Heinrich Vogeler oder dem Dichterprinzen Emil von Schoenaich-Carolath, verstand sich selbst aber nicht als Dichtergenie, vielmehr als einen Connaisseur und Flaneur, der die Kunst für die Ausstattung der bürgerlichen Welt liefern wollte. In einem Selbstportrait im „Wiener Journal“ aus dem Jahr 1926 beschreibt er sich als diesen Kunstgenießer ohne höhere Ansprüche, aber doch mit Kennerschaft: „Ich schreite nicht mit hochgesteckten Zielen durch die lichten und dunklen Tage dieses Daseins, sondern ich schlendere ziellos über die Erde hin“, notiert er über sich selbst. „Völlig überschäumend vermag ich nicht zu sein, denn das Geschick verlieh mir Beherrschtheit, Oekonomie des Gefühls, Gelassenheit der Lebensführung. Es ist daher auch ganz in der Ordnung, daß die letzten Leidenschaften nicht zu mir kamen oder ich nicht zu ihnen.“
Kritiker wie Walter Benjamin haben die gepflegte Beliebigkeit und die Prätensionen des Bedeutsamen bei Bethge kritisiert und betont, dass solche Lyrik doch eher auf Rotationsmaschinen, denn auf Büttenpapier gehöre. Doch diese Kritik Benjamins übersieht, wie wichtig es nicht nur dem Bauernsohn Bethge war, durch die Kunst das eigene Leben und auch das anderer zu einem Projekt des schönen Lebens zu erheben. Dafür konnte die Welt nicht groß und nicht exotisch genug und der Gedichte und Musik nie zu viele sein. Nicht nur Bethge dichtete damals seinen eigenen Hafis, schrieb Novellen über die unter deutscher Kolonialverwaltung stehende Insel Samoa und ahmte die klassischen Dichter Asiens und des Orients nach. Das war Kunsthandwerk mit dem Anspruch, die Welt zu einem schönen Platz zu machen. An diesem Selbstverständnis hat er bis zu seinem Tod 1946 in Kirchheim unter Teck festgehalten.

Hans Bethge © Wilhelm Lehmbruck / gemeinfrei, Gustav Mahler © Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

„Die chinesische Flöte“ von 1907 ist ein Beispiel für die Aneignung einer anderen, hier der Kultur der Tang-Zeit (617–907) in der Absicht, nicht die Fremdheit, sondern eine Wahlverwandtschaft mit alten und fernen Kulturen herzustellen. Dichtern wie Li-Tai-Pe, Meng Haoran und Wang Wei begegnet Bethge auf Augenhöhe. Da er selbst kein Chinesisch konnte, hat Bethge für seine Nachdichtung Heinz Heilmanns Anthologie „Chinesische Lyrik“, die französische Liebhaber-Übersetzung „Livre de Jade“ von Judith Gautier und die philologische Übersetzung „Poésies de l’époque des Thang“ des Sinologen d’Hervey-Saint-Deny genutzt, die diese Nähe über die Jahrhunderte und Kulturen hinweg schon vorbereitet haben. Bethge machte aus der streng formalen Lyrik der Vorlagen mit ihren behutsamen Anspielungen wortreiche Gedichte des Weltschmerzes. Dazu fügt er ausschmückende Adjektive hinzu, verallgemeinert Namen und Ortsangaben, wenn aus „Reisigsammlern“ „müde Menschen“ oder aus „Westgebirge“ „allen Tälern“ werden, stellt Sätze um und schiebt eigene Zeilen ein, um einen erzählenden Duktus zu erzeugen. Der Reisschnaps der Vorlagen wird in den poetischen Wein geadelt. Vor allem aber taucht Bethge die Gedichte in ein neoromantisches Licht, in dem er eigene Motive und Themen, wie Weltschmerz, universale Liebe oder romantische Verlassenheit, die Meng Haoran und Wang Wei ganz fremd sind, ergänzt. Aus Meng Haorans Gedichttitel „An der Berghütte, in welcher der Meister übernachten will, warte ich auf Herrn Ding, doch er kommt nicht“, wird bei Bethge der Titel „Der Abschied“. Erst bei Bethge atmet die Erde „voll Ruh und Schlaf“ und singt der Bach „voller Wohllaut“. Formulierungen wie eine „Sehnsucht, die träumen will“, ein im „Schlaf vergess’nes Glück“ findet sich in keinem chinesischen Gedicht des siebten bis zehnten Jahrhunderts, noch weniger die von Mahler dann hinzugefügten Ausrufe „O Schönheit! O ewigen Liebens, Lebens trunk’ne Welt“.

Für Bethge wie dann auch für Mahler sind diese Eingriffe in die Wiederherstellung eines ursprünglichen, aber verloren gegangenen poetischen Sinns der Welt. Mahler war mit seiner Hochschätzung Bethges nicht allein. Dessen Nachdichtungen wurden von so unterschiedlichen Komponisten wie Richard Strauss in seinen „Gesänge des Orients“ (op. 77) vertont, von Arnold Schönberg in zwei der vier „Chorstücke“ (op. 27), sie finden sich in Anton Weberns „Vier Liedern für Gesang und Orchester“ (op. 13) oder Hanns Eisler „Sechs Liedern“ (op. 2), in Gottfried von Einems „Fünf Liedern aus dem Chinesischen“ (op. 8), Ernst Tochs Liederzyklus „Die chinesische Flöte“ (op. 29) oder Egon Wellesz „Kirschblütenliedern“ (op. 8) und „Liedern aus der Fremde“ (op. 15) oder auch in Karol Szymanowskis „Des Hafis Liebeslieder“ (op. 24). In der Musik leben Bethges Nachdichtungen fort und erzählen im exotischen Gewand von der verlorenen poetischen Einheit der Welt und ihrer Belle Époque.

Freitag, 6. Juni 2025

Wiener Philharmoniker
Iván Fischer | Dirigent
Tanja Ariane Baumgartner | Mezzosopran
Daniel Behle | Tenor

Joseph Haydn
Symphonie c-Moll, Hob. I:52
Gustav Mahler
Das Lied von der Erde. Symphonie für zwei Solostimmen und Orchester nach Hans Bethges „Die chinesische Flöte“

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