Beethovens Spazierstock und neue Wege: Die Musikvereinssaison 2025/26 zwischen Tradition und Innovation

© Wolf-Dieter Grabner
Einer großen Tradition verpflichtet, mit Mut zu neuen Akzenten – und mit Beethovens Spazierstock durch die Musikgeschichte wandelnd: Intendant Dr. Stephan Pauly im Gespräch über das Programm der kommenden Saison 2025/26.

Von Daniel Ender

08.06.2025

Seit fast fünf Jahren wirken Sie als Intendant des Musikvereins – eines Hauses, das sich vor allem der Tradition exzellenter Aufführungen „großer Meister“ von Bach bis Bruckner verschrieben hat. Wie schwer oder leicht war es für Sie, bei Beibehaltung der Identität und Atmosphäre des Hauses dramaturgische Akzente, neue – auch vielfach überraschende – Perspektiven und Themen einzubringen, also Ihre Handschrift im Programm sichtbar werden zu lassen?
Sollte das wirklich so gelungen sein, wie Sie es beschreiben, dann würde mich das sehr glücklich machen, weil das genau das Ziel ist. Aber das lässt sich besser von außen beurteilen als von innen. Die Frage, was für mich persönlich am interessantesten ist, darf nicht im Mittelpunkt stehen – es ist eher so, dass ich mit dem gesamten Team darüber nachdenke, was das Beste für das Haus ist, was dem Publikum bereichernde Erfahrungen und Impulse ermöglicht. Für mich war von Beginn an klar, dass neben die von Ihnen erwähnte, für unser Haus ganz zentrale erste Säule, die sozusagen das Rückgrat des Programms bildet, nämlich die Tradition lebendig zu bewahren, zwei weitere Säulen treten. Wir wollen einerseits auf kreative Weise an Programme herangehen und andererseits darauf abzielen, mit neuen Publikumsschichten in Kontakt zu kommen. Zusammen sind das die drei Säulen, die meinem Verständnis nach unser Haus tragen. Tradition heißt: die großen Meisterwerke zu spielen, das große Repertoire zu pflegen, die besten Künstlerinnen und Künstler der Welt bei uns zu Gast zu haben. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit und wird auch von uns erwartet. Wir sind es der Tradition aber auch schuldig, in unserer Institution ebenso die Entwicklung von Neuem zu ermöglichen, ohne unsere Identität zu verlieren – anders gesagt: eine gute Balance zwischen unserem historisch gewachsenen Profil und einer Weiterentwicklung mit einer einladenden, hoffentlich niemals didaktischen Geste zu finden.
Ihre Frage war aber, ob das schwer oder leicht war … Meine Antwort darauf ist, dass man es nur ausprobieren kann, mit möglichst viel Neugier, Mut und Fantasie. Und die Antwort gibt uns unser Publikum: Wir sind stolz darauf, dass die Auslastung heute fast wieder auf dem Niveau von vor der Corona-Pandemie liegt und wir uns somit über eine enorme Zustimmung freuen dürfen. Diese Auslastung inkludiert natürlich auch alle neuen Programmelemente.

Was gibt es über das Programm der kommenden Saison zu erzählen? Es ist ja faktisch so, dass es viele Veranstaltungen gibt, die Sie gar nicht bewerben müssen, weil das Publikum ohnehin sozusagen von selbst kommt. Ist somit in anderen Programmteilen mehr Akzentuierung möglich und auch mehr Vermittlung nötig?
Es gibt bei uns tatsächlich etliche Abende, die verlässlich sehr schnell ausverkauft sind, aber es gibt andere Programme, die ein bisschen abseits des Gewohnten liegen und die etwas mehr Kommunikation benötigen. Unser Team hat in den letzten Jahren auch unser Marketing stark weiterentwickelt. Sie haben schon Recht, zu Entdeckungen muss man ein bisschen mehr einladen als zu vertrauten und bekannten Werken. Aber das ist, glaube ich, immer so im Veranstaltungsbereich.

Wozu werden Sie in der nächsten Saison besonders einladen?
Im Bereich der großen Pflege unserer Tradition kann man sich darauf freuen, dass wirklich fast alle der bedeutendsten klassischen Musikerinnen und Musiker der Welt wieder bei uns zu Gast sind, praktisch alle großen Orchester der Welt sowie die Wiener Orchester. Der Musikverein als zentraler Ort im Konzertgeschehen der Klassikwelt insgesamt – dieser Anspruch wird selbstverständlich auch in der kommenden Saison wieder eingelöst. Wir setzen auch die Reihe der Künstlerportraits fort: 2025/26 sind diese Martha Argerich und Andris Nelsons gewidmet. Ebenso wichtig sind für uns Vertreterinnen und Vertreter der jüngeren Generation: Hier gibt es etwa Schwerpunkte rund um Lahav Shani oder die beiden jungen österreichischen Künstler:innen Julia Hagen und Lukas Sternath. Bei den kreativen Programmen wird beispielsweise Igor Levit einen sehr persönlichen Schwerpunkt gestalten, der ausgehend von Schostakowitsch Werke in den Mittelpunkt stellt, die um das Gedenken an andere Menschen kreisen. Matthias Goerne und Daniil Trifonov laden wiederum zu einem Schubert-Schwerpunkt ein: ein Plädoyer für das Lied anhand der drei großen Liedzyklen Schuberts.

Komponistinnen waren in der Vergangenheit eine Seltenheit im Programm – das hat sich geändert.
Ja, und zwar mehrfach: Die bedeutende Komponistin Chaya Czernowin, die in ihrer Musik, wie ich finde, Jahr für Jahr mit unterschiedlichsten Klangwelten überrascht, ist mit einer breit angelegten Residenz zu Gast: Gemeinsam mit ihr haben wir ein Programm vom großen Orchesterwerk bis zu vielfältiger Kammermusik entwickelt. Einige dieser Konzerte finden in der wunderbaren Kooperation mit Wien Modern statt. In der zeitgenössischen Musik ist es heutzutage zum Glück völlig selbstverständlich, dass Komponistinnen ebenso wie Komponisten repräsentiert sind, sodass das fast nicht mehr der Rede wert ist. Im Bereich der immer noch völlig männlich dominierten historischen Musik ist das allerdings noch nicht so – daher präsentieren wir ab der kommenden Saison jeweils eine Komponistin der Musikgeschichte mit einem Schwerpunkt, beginnend mit Lili Boulanger.

Nähere Informationen zum Abonnementprogramm sowie zu den Saisonschwerpunkten finden Sie unter musikverein.at

© Julia Wesely

Das Musikverein Festival ist jedes Jahr von einem besonderen Objekt der hauseigenen Sammlungen inspiriert. Welches Objekt wird das in der kommenden Saison sein?
Unsere Sammlungen sind derart reichhaltig und verfügen auch über eine Vielzahl ungewöhnlicher Objekte, dass wir hier wirklich die Qual der Wahl haben. Für 2025/26 haben wir uns für einen persönlichen Gegenstand aus dem Besitz von Ludwig van Beethoven entschieden: seinen Spazierstock, der aus einer Weinrebe gefertigt und mit einem Elfenbeinknauf versehen wurde. Wir wissen, dass der Komponist dieses schöne, persönliche Stück wirklich benutzt hat, weil die Reihe seiner Besitzer den engeren Beethoven-Kreis nie verlassen hat, bevor es uns geschenkt wurde. Davon ausgehend, befasst sich das Festival musikalisch mit Themen, die man mit dem Spazierstock in Verbindung bringen kann: dem Gehen, dem Marschieren, der Erfahrung von Natur und Stadt, der Eroberung von Räumen, dem Erleben neuer Länder usw. All diese Themen werden mit einem sehr vielfältigen Programm musikalisch aufgegriffen – angefangen bei Beethoven, über Mendelssohn, Mahler, Berlioz und andere Komponisten der Tradition und bis zu Werken von Mauricio Kagel oder Luigi Nono. Besonders freue ich mich, dass der Pianist und Kurator Marino Formenti eine eigene Konzertreihe mit zeitgenössischer Musik gestalten wird. Sie ist mit „Nachtklänge“ überschrieben und lädt alle Konzertbesucher:innen ein, zeitgenössische Musik im Kontext des Festivals zu erleben.

In dieser Saison haben Sie die Gesprächsreihe „Wie wollen wir zusammenleben?“ initiiert. Werden gesellschaftliche Fragen auch weiterhin in Ihre programmatischen Überlegungen hineinwirken?
Wir haben diese Gesprächsreihe begonnen, weil es uns als Musikverein wichtig ist, in der Gegenwart zu leben und begleitend zu den Konzerten in unserem Haus auch aktuelle, drängende Themen der Gegenwart aufzugreifen. Die Gesellschaft, in der wir leben, driftet immer mehr auseinander, die Polarisierung nimmt dramatisch zu, der Dialog von gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlicher Überzeugungen wird immer schwieriger, immer härter, immer unversöhnlicher. Diese Problematik haben wir in der Gesprächsreihe aufgegriffen und in mehr als dreißig Gesprächen unsere Künstler:innen gefragt, welche persönlichen Gedanken, Erfahrungen oder Anregungen sie geben können zu der Frage, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen. Wir haben mit dieser Reihe die Erfahrung gemacht, dass ein so aktuelles Thema zu unterschiedlichsten Perspektiven führt: Manche Künstlerinnen und Künstler sprechen über höchst persönliche Erfahrungen, manche denken grundsätzlich über Politik nach, andere wiederum berichten aus gelungenen Modellen des Zusammenlebens im musikalischen Bereich – es entsteht so ein weites Panorama von Einsichten zu dieser schwierigen Frage. Wir versuchen weiterhin, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass neben der Musik eine Welt existiert, die uns umgibt und die uns alle als Bürger:innen sehr beschäftigt. Darauf wollen wir ein Stück weit auch mit unserem Programm reagieren. Nächste Saison greifen wir in einem Programmschwerpunkt ein anderes aktuelles Thema auf, nämlich den Klimawandel – auch im Zusammenhang mit der Frage, wie die Klassikbranche im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen Beitrag zum Klimaschutz leisten kann.

Neues Publikum anzusprechen heißt immer auch: junges Publikum. Wie geht das?
Zum Beispiel mit neuen Konzertformaten, und mit vielfältigem Angebot! Dafür stehen natürlich unser sehr diverses, vielfältiges Programm in den Neuen Sälen und unser umfassendes Kinder- und Familienprogramm, das sich größter Nachfrage erfreut. Auch an junges Publikum wird sich ab der kommenden Saison ein neues Projekt richten, das wir gemeinsam mit den Wiener Symphonikern präsentieren: „Hör-Bar mit Petr Popelka“. Dieses neue Konzertformat öffnet die traditionelle Form des klassischen Konzerts bewusst und versucht, die Grenze zwischen Musikern und Publikum aufzubrechen. Petr Popelka wird in einem lockeren Setting mit Ensembles der Wiener Symphoniker Stücke dirigieren, erläutern, darüber mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Die Bar wird geöffnet sein, in den Pausen mischen sich die Musiker:innen unters Publikum.

Wird der Club 20 für unter 30-Jährige weiterbestehen? Inwieweit lässt sich den Bedürfnissen dieser Gruppe entgegenkommen?
Nächste Saison wird neu sein, dass es für alle Menschen unter 30 Jahren für alle Eigenveranstaltungen des Musikvereins Karten für 20 Euro im Großen Saal und für 10 Euro in den anderen Sälen geben wird – und zwar ohne Mitgliedsgebühr, obwohl wir uns natürlich über alle freuen, die sich in Form einer Jugendmitgliedschaft dem Musikverein verbunden zeigen. Mit Blick auf die kommende Saison möchten wir auch darauf hinweisen, dass es uns gelungen ist, die Abonnementpreise nicht zu erhöhen, sondern auf dem gleichen Niveau wie in der laufenden Saison zu belassen. Das ist aufgrund unserer ausgezeichneten Auslastung und auf Basis der vorausschauenden Finanzplanung unserer kaufmännischen Direktorin Mag. Renate Futterknecht möglich – und soll natürlich auch ein Zeichen an unser Publikum sein, dass wir uns über den Zuspruch zu unseren Abonnements sehr freuen und mit stabil gehaltenen Abonnementpreisen dazu einladen, nach Lust und Laune aus unserem Programm auszuwählen.

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