Auf dem geraden Weg: Sir András Schiff
Von Oilver Láng
22.04.2024
Der aus Ungarn stammende Weltbürger und Meisterpianist Sir András Schiff tritt im Rahmen des Musikverein Festivals „Courage!“ im Großen Musikvereinssaal auf. Zu hören gibt es ein spontan gewähltes Überraschungsprogramm aus dem großen Repertoire des Künstlers. Im Gespräch mit Oliver Láng erzählt er über Mut und Wahrhaftigkeit, über sein Ausspannen vor Konzerten und den Blick in den Spiegel.
Ein sonniger Mittag in Wien, das vormittägliche Üben fürs Konzert am Abend ist gerade vorbei. Besonnen, fast ein wenig nachdenklich der Pianist, doch scheint er von der Musik erfrischt. Er ist durchaus keiner von der lauten, überzogen jovialen Art, sondern strahlt, bei aller zuvorkommenden Freundlichkeit, eine besondere Form der noblen Zurückhaltung aus. Ob man das Interview gleich hier im Saal machen möchte, neben dem Klavier? Oder doch lieber im Künstlerzimmer? Er bleibt auch freundlich, als er die erste, nicht unbedingt tiefgründige, aber immerhin die Gelegenheit beim Schopf packende Frage hört: „Maestro Schiff, so frisch von der Probe: Wie übt man denn eigentlich richtig?“
Es folgt nur ein kurzes Schweigen. Und dann: „Indem man nicht übt, sondern spielt.“ Aber nicht in voller Lautstärke, nicht im richtigen Tempo, sondern leiser und langsamer. Und vor allem: zuhörend. Die mechanischen Fingerübungen, er vergleicht sie mit Holzhacken, habe er bereits mit 18 Jahren aufgegeben und gegen etwas viel Erfüllenderes eingetauscht: gegen eine musikalische Morgenroutine mit Johann Sebastian Bach. „Mit ihm fange ich jeden meiner Tage an. Es ist wie eine hygienische Reinigung des Geistes und der Seele.“ Und schon fließen Schiffs Gedanken: „Ist Ihnen aufgefallen, dass man im Deutschen, Ungarischen, Französischen, Russischen und Englischen ein Instrument spielt? Und ist es nicht schön, dass in der Bezeichnung eben das Spielerische zum Ausdruck kommt?“ Natürlich, so präzisiert er: „Musizieren ist auch Arbeit, Schwerstarbeit sogar. Aber dennoch: Immer auch Vergnügen.“ Und sollten Geist und Körper dann doch ermüden, empfiehlt der Pianist einen Spaziergang, am besten ins Museum. Oder ein gutes Buch. Im Idealfall: beides. Jedenfalls kein Weiterüben bis zum Abwinken. Denn: „Die Musik muss zum Konzert frisch bleiben. Ich will ja nicht alles am Vormittag ausgeben!“
Jetzt sehen wir also Sir András Schiff durchs Kunsthistorische Museum wandeln, ein gutes Buch unterm Arm. Und schon purzeln neue Fragen durch den Kopf: Täte es der Fernseher zum vorkonzertlichen Ausgleich auch? Und was ist es eigentlich, ein gutes Buch?
Der Fernseher, so meint er, wäre für ihn zur Entspannung „ganz falsch“. Und was das Buch betrifft: Es sollte Niveau haben. Jetzt wird er bei aller Freundlichkeit und Unaufdringlichkeit sehr deutlich: „Man muss schon klar sagen, was gute Kunst ist und was Mist.“ Das habe im Falle der Literatur mit der Sprache und dem Stil zu tun. Und auch: ob es eine Botschaft habe oder nicht. Ganz allgemein betont Schiff, gehe es ihm um ein Gleichgewicht zwischen einer emotionalen Ebene und anderen Kategorien, etwa dem intellektuellen Aspekt. Und wieder kommt er zu seinem Lebenskomponisten: „Darum ist mir die Bach’sche Musik die allergrößte, weil sie mich auf allen Ebenen befriedigt. Emotional, spirituell, intellektuell und physisch. Auch die späten Streichquartette von Beethoven erreichen eine metaphysische Zone, ebenso Haydns ‚Schöpfung‘. Das ist höchste Philosophie.“ Auf der Habenseite stehen bei Schiff unter anderem auch: Mozart, Brahms, Bartók oder Schubert. Bei dessen „Winterreise“ bekomme er immer Gänsehaut. Und nicht, weil sie so „schön“ sei (ein empörend vereinfachendes Wort, findet er), sondern unter anderem, weil sie so viel Wahrheit biete. So viel Hintergründiges und „Untergründiges“.
Wahrheit also. Diese bedeutet für Schiff auch, die Werke der großen Komponisten ganz ernst zu nehmen. „Wir Interpretinnen und Interpreten sind ja nur nachschaffende Menschen. Die wahren Schöpfer, das sind die Komponisten.“ Daraus folgt, dass es einen klaren Rahmen gibt, in dem er sich bewegen dürfe. „Wenn Beethoven etwas geschrieben hat: Wer bin ich, dass ich das anders spielen dürfte?“ Ja, geradezu schlaflose Nächte wären die Folge, wenn er es wagte, Werke zu verändern oder Anweisungen zu ignorieren. Er formuliert ganz höflich, aber sehr bestimmt: „Das ist nicht Pedanterie, aber da gibt es kein Pardon!“
Nein, Pedanterie ist es gar nicht, sondern eine Lebenseinstellung. Denn Wahrheit, Wahrhaftigkeit, der gerade Weg seien ihm immer wichtig gewesen. Und da er vor wenigen Monaten einen runden Geburtstag gefeiert hat, stellt sich wie von selbst die nächste Frage: War das ein Moment des Bilanzziehens, des Überprüfens der eigenen Positionen, eine persönliche Standortkontrolle? Antwort: „Die runden Geburtstage, die sind doch unwichtig! Aber diese Fragen stelle ich mir immer, immer. Jeden Tag! Ist mein Gewissen klar? Kann ich in den Spiegel schauen?“ Auch die künstlerische Bilanz ist da ein Thema. Nicht um eine laufende Erweiterung des Repertoires geht es ihm, sondern um eine Vertiefung. „Ich habe die 32 Klaviersonaten Beethovens als Zyklus mehr als 30-mal gespielt. Jetzt, nach meinem 70. Geburtstag, fühle ich, dass für mich ein weiteres Mal nicht nötig ist. Aber es gibt etwa ein Dutzend seiner Sonaten, die ich besonders liebe. Und auf die konzentriere ich mich jetzt.“
Doch zurück zum geraden Weg: Dieser betrifft vor allem auch die allgemeine Lebenshaltung. Und weil Schiffs Konzert im Rahmen des Musikverein Festivals „Courage!“ stattfindet, drängen sich weitere Fragen auf: Etwa: Gehört Mut zum Künstlertum dazu – oder gehört er einfach zum richtigen Menschsein? Die Antwort kommt ohne Zögern: „Ich glaube, jeder Mensch sollte ein bisschen Zivilcourage haben. Das heißt noch nicht Heldentum. Aber einfach den Mut haben, im Alltag bei Ungerechtigkeit oder Unmenschlichkeit nicht einfach wegzuschauen oder still zu bleiben.“ Und er beruft sich auf die Biographie einiger seiner Leitsterne: „Ein Beethoven, was für eine Courage! Was hat er gelitten im Leben, und welche Botschaft hat er uns in seiner Musik hinterlassen! Oder Béla Bartók, mein großer Landsmann: Was für ein Vorbild, nicht nur als Musiker und Komponist, sondern als Mensch. So mutig und kompromisslos! Ja, das ist Courage: eine klare, saubere Linie. Einen Komponisten, der das nicht bietet, den kann ich vielleicht bewundern, niemals aber lieben. Nicht einen Wagner, nicht einen Richard Strauss.“
„Ich glaube, jeder Mensch sollte ein bisschen Zivilcourage haben. Das heißt noch nicht Heldentum. Aber einfach den Mut haben, im Alltag bei Ungerechtigkeit oder Unmenschlichkeit nicht einfach wegzuschauen oder still zu bleiben.“
Haben Künstlerinnen und Künstler nun ganz allgemein eine besondere Verantwortung, weil sie eben in der Öffentlichkeit stehen? Und daher Vorbildwirkung haben können? „Ich habe nicht das Recht, das von anderen zu erwarten. Aber für mich ist ganz klar, dass Politik und Kunst untrennbar sind. Als Künstler lebe ich nicht im Elfenbeinturm. Wie ich zu Ungarn von Viktor Orbán stehe, ist für mich ganz klar und allgemein bekannt. Oder nehmen wir Russland: Ich will und darf jetzt nicht nach Russland fahren, um Konzerte zu geben, obwohl mich das sehr schmerzt. Aber es ist eine eindeutige Sache! Und wenn ich damit ein Zeichen setze und es anderen Vorbild ist: umso besser!“
Zuletzt noch ein Blick ins Programm. Schiff spielt … Ja, was spielt er eigentlich? „Ich weiß es wirklich noch nicht. Am liebsten gebe ich nichts an, sondern komme am Vormittag des Konzerttages in den Saal und fange an zu musizieren. Welches Stück klingt hier am schönsten? Wie ist meine Tagesverfassung? Und dann schenkt mir der Saal Inspiration.“ Um Courage wird es jedenfalls gehen, um Mut, Wahrheit und einen geraden Weg. In der Musik, im Leben – und in der Interpretation!