Der Pianist als Detektiv: Rudolf Buchbinder

© Marco Borggreve
Für seinen aktuellen Schubert-Schwerpunkt im Musikverein hat sich Rudolf Buchbinder prominente Gäste eingeladen. Auf einen Kammermusikabend im Jänner folgt im Februar dann das große Finale mit einem Soloabend.

Von Miriam Damev

21.01.2025

Zwei leuchtend rote japanische Ahornbäume und ein winziger, grauer Pudel empfangen Besucher:innen des Hauses B. Das „B“ steht für Buchbinder, wobei „Bühnenmensch“ oder „Beethoven“ ebenso passen würden. Schließlich war es Beethoven, der den Pianisten und Bühnenmenschen Rudolf Buchbinder zur Musik brachte. „In unserer Wohnung stand auf dem Pianino die Kopie einer Lebendmaske von Beethoven. Die hat mich ungemein fasziniert. Ich bin am Klavier gesessen und habe mir Beethovens Gesicht angeschaut.“
Buchbinder ohne Beethoven? Unvorstellbar. Glücklicherweise fand sich im Leben des Pianisten Platz für eine weitere große Liebe – jene zu Franz Schubert. Zum Gespräch hat Rudolf Buchbinder in sein Atelier geladen. Zwei Steinway-Flügel und unzählige Noten, Originalausgaben und Handschriften nehmen hier den meisten Platz ein. Allein von den Beethoven-Sonaten besitzt Buchbinder 39 verschiedene Ausgaben.
Für Buchbinder lesen sie sich wie Kriminalromane – und bergen so manche Überraschung. Etwa die Erstausgabe von Schuberts Impromptus op. 90. Buchbinder holt das wertvolle Bündel Papier aus dem Regal: „Schubert ließ sich von seinem damaligen Verleger Haslinger dazu überreden, das Stück von der vermeintlich schwierigen Tonart Ges-Dur nach G-Dur zu transponieren.“ Buchbinder spielt das Stück in G-Dur an und bricht nach drei Takten ab. „Scheußlich!“, ruft er und setzt erneut an, dieses Mal in der Originaltonart Ges-Dur. Lyrik und Wärme durchfluten die Musik. Kaum vorstellbar, dass das dritte Impromptu – es erschien erst nach Schuberts Tod – bis weit ins 20. Jahrhundert immer noch mit den falschen Noten studiert wurde. „Sogar Richter hat es in Wien noch in G-Dur gespielt“, erzählt Buchbinder.

Beethoven mag Buchbinders erste Liebe gewesen sein; mit Beethoven debütierte er als Bub im Großen Musikvereinssaal. Seine erste Schallplatte aber nahm er 1968 als 22-Jähriger mit dem Wiener Tenor Werner Krenn und Schuberts „Schöner Müllerin“ auf. In den siebziger Jahren folgten sämtliche seiner Klaviertrios, Duos für Violine und Klavier, Impromptus und Moments musicaux. Buchbinder bewahrt die Schallplatten original verpackt in einem Schrank auf. Alte Aufnahmen hört er sich aus Prinzip nicht an. „Als junger Mensch ist man völlig intolerant und unflexibel, zum Beispiel, wenn es um das Rubato geht. Ich werde nie vergessen, wie ich als Student Pablo Casals mit den Bach-Suiten gehört habe. Ich war entsetzt, dass jemand Bach mit so viel Rubato und so frei spielen kann.“
Freiheit bedeutet für Buchbinder vor allem eines: Wissen. Also wurde der Pianist zum passionierten Notensammler und akribischen Detektiv in Sachen Authentizität. Als Schubert mit 31 Jahren starb, hatte er viele seiner Werke nie in einem Konzert gehört; ein Großteil seiner Instrumentalmusik erschien überhaupt erst Jahre nach seinem Tod. Herausgeber wie Haslinger, Schott oder Diabelli hatten ihre Finger im Spiel und, je nach Gusto und Mode, „herumgepfuscht“, so Buchbinder. Das Ergebnis waren überflüssige Takte, falsche Noten oder fehlende Vortragszeichen.
Obwohl Schubert einer der größten Klavierkomponisten war und die Dramatik der großen Sonate ebenso souverän beherrschte wie die kleine Form, war er, anders als Beethoven oder Liszt, kein besonders guter Klavierspieler, erzählt Buchbinder. „Nachdem er die ,Wanderer-Fantasie‘ komponiert hatte, verfluchte der Pianist Schubert den Komponisten Schubert, weil er so unspielbares Zeug geschrieben hat“, lacht er.
Besonders heikel sei bei Schubert der Rhythmus, so Buchbinder. „Im zweiten Satz der posthum veröffentlichten B-Dur-Sonate findet sich genau so eine Stelle“, sagt er, setzt sich ans Klavier und schlägt den Mittelteil des Andantes auf. Die rechte Hand spielt eine Figur von sechs Noten, über die Schubert jeweils eine punktierte Note geschrieben hat. „Bis in die 1980er Jahre setzten manche Editionen die punktierte Note nach die letzte Sextolen-Note. Dabei gehören sie zusammengespielt und nicht nacheinander.“ Buchbinder hält kurz inne, springt auf und holt sich das Autograph von Beethovens „Mondscheinsonate“ aus dem Regal. In den Takten fünf und sechs steht über der Triole in der rechten Hand ebenfalls eine punktierte Note. „Auch zusammengeschrieben!“, ruft er. „Wir spielen das alle falsch, ich auch.“
Buchbinder weiß so manche Anekdote rund um Schubert zu erzählen. Zum Beispiel, dass Diabelli seinen Schubert-Ausgaben posthum fiktive Widmungsträger andichtete. Bei den Impromptus galt sie Franz Liszt, der schon zu Lebzeiten ein internationaler Star war. Die Schubert-
Sonaten „widmete“ er dem ebenfalls populären Robert Schumann. „So kurbelte Diabelli den Verkauf der Kompositionen auch nach Schuberts Tod an. Ein raffinierter Gauner und ein echtes Marketing-Genie.“
Die B-Dur-Sonate, die Schubert 1828 zwei Monate vor seinem Tod vollendete, oszilliert zwischen schwindelerregender Höhe und abgründigen Tiefen. Unter das lyrische Thema zu Beginn schleicht sich nach wenigen Takten ein Basstriller ein und bringt die Idylle mit einem Pianissimo ins Schwanken. Buchbinder führt die Stelle am Klavier vor. Ein leichtes, unheimliches Grummeln macht sich breit. Dann blättert er zum Ende der Exposition, kurz vor der Wiederholung, wo derselbe Triller erneut erscheint. Dieses Mal lautet die Bezeichnung fortissimo. Buchbinder greift mit voller Wucht in die Tasten. Das anfängliche, diffuse Grummeln verwandelt sich plötzlich in eine verhängnisvolle Mischung aus Bodenlosigkeit und Angst.

© Julia Wesely

Freiheit bedeutet für Buchbinder vor allem eines: Wissen. Also wurde der Pianist zum passionierten Notensammler und akribischen Detektiv in Sachen Authentizität.

Schuberts letzte Kompositionen lieferten immer wieder Anlass zur Mystifizierung. Hat er seinen eigenen Tod vorausgeahnt? Oder gar herbeigesehnt? Manchmal wusste er wohl selbst nicht, wohin die Reise geht. Schubert, der ewige Wanderer. Schubert, der Rastlose, der ewig Suchende. Der Tod war in Schuberts Leben jedenfalls allgegenwärtig, erzählt Buchbinder. Neun seiner Geschwister starben noch im Kindesalter, später kamen die eigenen, schweren Leiden hinzu. Sein Äußeres veränderte sich dramatisch, sein Körper war aufgedunsen, er litt unter schlimmen Hautausschlägen, die Haare fielen im aus, und er trug zeitweise eine Perücke. „Schubert sah nicht aus, wie man sich Genies vorstellt“, konstatierte bereits Alfred Brendel in den 1970er Jahren treffend.
Auch mit dem scheinbar so unkomplizierten „lieben Franzl“ tut sich Buchbinder schwer. Zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt – Schuberts Musik spiegelt auch sein Wesen wider. „Er, der trinkfeste und fröhliche Zechkumpan, zog sich ebenso rasch zurück in die absolute Einsamkeit und schrieb Musik.“
Schubert hinterließ fast tausend Werke – „eine überwältigende Zahl, wenn man bedenkt, dass ihm bis zu seinem Tod nur achtzehn Jahre zum Komponieren blieben“, so Buchbinder. Längst wurde berechnet, dass er über dreißigtausend Stunden komponierend verbracht haben muss. So entstanden an einem Vormittag mehrere Lieder oder ein ganzer Streichquartettsatz. Überall schimmert das Schubertsche Genie durch: eine überraschende harmonische Wendung, ein kräftiger Rhythmus, eine bezaubernde Melodie. „Im Gegensatz zu Beethoven, der Skizzenbücher mit Entwürfen füllte, brauchte Schubert nur knappe Erinnerungen, eine Floskel, eine Modulation als Vorentwurf“, sagt Buchbinder. „Alles andere hatte er im Kopf.“
Zu Lebzeiten stürmte Schubert mit seiner vermeintlich leichten, unverbindlichen Unterhaltungsmusik die Wiener Salons. Bei den sogenannten Schubertiaden setzte er sich im Kreis seiner Freunde oft und gerne ans Klavier und improvisierte stundenlang Tanzmusik. Auch wenn Schubert auf den ersten Blick den Charakter des Spontanen wahrte, verfolgte er höhere Ziele. Sein Verleger war wenig glücklich damit. Den Impromptu-Zyklus op. 90 schickte er dem Komponisten prompt zurück, mit den Worten: „Diese Werke sind als Kleinigkeiten zu schwer.“

Donnerstag, 30. Jänner 2025

Rudolf Buchbinder | Klavier
Albena Danailova I Violine
Elmar Landerer | Viola
Tamás Varga | Violoncello
Michael Bladerer | Kontrabass

Franz Schubert
Sonate für Klavier, Violine und Violoncello B-Dur, D 28
Klaviertrio Es-Dur, D 897, „Notturno“
Klavierquintett A-Dur, D 667, „Forellenquintett“

Mittwoch, 26. Februar 2025

Rudolf Buchbinder | Klavier

Franz Schubert
Vier Impromptus, D 935
Sonate B-Dur, D 960

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