Grand Slam für Schostakowitsch – Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra

© Robert Torres
Das Boston Symphony Orchestra hat eine große Schostakowitsch-Tradition – und aktuell einen Chefdirigenten, der den russischen Komponisten seit seinen Jugendtagen liebt. Im Mai dirigiert Andris Nelsons am Pult seines amerikanischen Orchesters zwei reine Schostakowitsch-Programme im Großen Musikvereinssaal.

Von Paul-Henri Campbell

16.04.2025

Ein Faktum, das schier unglaublich scheint: Bereits in den 1930er Jahren spielte das Boston Symphony Orchester (BSO) regelmäßig Schostakowitsch, in den 1940er Jahren verdichtete sich die Häufigkeit noch, als Werke dieses russischen Komponisten unter dem damaligen Musikdirektor Serge Koussevitzky sagenhafte 96 Mal zur Aufführung gelangten. Die größten Dirigenten der Welt sollten als Schostakowitsch-Interpreten folgen, selbstverständlich auch Langzeit-Musikdirektor Seiji Ozawa, der das Orchester von 1979 bis 2002 leitete. Neu aufgeflammt ist die Liebe des Klangkörpers zu Schostakowitsch zuletzt unter der Leitung des lettischen Dirigenten Andris Nelsons, der den Klang des Orchesters seit zehn Jahren prägt. Das Musikvereinspublikum kann im Mai nun Zeuge dieser intensiven Auseinandersetzung werden.
Das 1881 gegründete Boston Symphony Orchestra gastierte 1956 erstmals in Wien. Seither war das Orchester aus Massachusetts zwanzig Mal in der Donaumetropole zu hören. Zahlreiche Dirigenten des BSO, wie etwa der Ungar Arthur Nikisch (1855–1922) und der in Österreich geborene Wilhelm Gericke (1845–1925), erhielten ihre Ausbildung in Wien. Aber nicht nur Akteure und das Repertoire verbinden das BSO mit Wien. Auch ein Geist, in dem Musik und Leben einander zugeordnet sind, ineinanderfließen, prägt die Neuengländer.

Diese Haltung spiegelt sich in der Verbundenheit zahlreicher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit dem Orchester wider. Die 40-jährige Bürgermeisterin Michelle Wu ließ etwa bei ihrem Amtsantritt einen Konzertflügel ins Rathaus stellen und trat mit dem BSO-Ableger Boston Pops auf, mit denen sie im September 2024 Gershwins „Rhapsody in Blue“ spielte. Natürlich ließ es sich auch das BSO nicht nehmen, den Sieg der Boston Red Sox bei den World Series würdig zu begehen, so dirigierte Andris Nelsons den Dropnick-Murphy-Hit „I’m Shipping Up To Boston“, um die Baseball-Mannschaft im legendären Fenway Park zu feiern. Nelsons scherzte in Richtung der unterlegenen Los Angeles Dodgers: „Das ist ein Geschenk vom Boston Symphony Orchestra für alle Red-Sox-Fans. Wir fordern übrigens Gustavo Dudamel heraus, mit seinem Los Angeles Philharmonic unseren Hit zu toppen.“

Die herausragende Rolle des Orchesters strahlt weit über die kulturelle Landschaft der USA hinaus. Sie ist jedoch auch eine treibende Kraft für die eminente Internationalität seiner Heimatstadt. Neben engen Verbindungen zum renommierten New England Conservatory, das direkt neben der Boston Symphony Hall angesiedelt ist, bildet das BSO ein wichtiges Scharnier zu Kultureinrichtungen wie dem National Endowment for the Arts und Hochschulen der Stadt. Beispielsweise bindet es das Harvard-Radcliffe Orchestra in das Sommerfestival im Tanglewood Music Center ein – der Ort in den Berkshires ist sozusagen die Sommerresidenz und -bühne des Orchesters an der Bostoner Huntington Avenue.

„Schostakowitschs Musik ermöglicht es uns, sein persönliches Schicksal nachzuempfinden, da sie die Facetten der menschlichen Existenz widerspiegelt.“

 

Andris Nelsons

© Robert Torres

Ein vielseitiges Rahmenprogramm flankiert die Konzerte in Boston. Hierzu gehören nicht nur Ausstellungen und Vorträge. Besonders stolz ist man auf das 1968 initiierte Programm „Days in the Arts“ (DARTS), das Kinder und Jugendliche in Zusammenarbeit mit Schulen der Region die „transformative Power“ von klassischer Musik bei einem Summer Camp erleben lässt: „Dieses Sommerprogramm wird von professionellen Musikvermittler:innen geleitet“, sagt die Sprecherin des Projekts, „und konzentriert sich darauf, Selbstvertrauen und Führungsqualitäten zu stärken, kreatives Risikodenken zu fördern und die Stimmen junger Menschen in und durch die Kunst zu unterstützen.“

Andris Nelsons, der das BSO bereits 2016 und 2018 in Wien dirigiert hat, betont enthusiastisch in Bezug auf die bevorstehenden Konzertabende im Musikverein: „Die Musiker des Boston Symphony Orchestra und ich sind begeistert, nach Europa zurückzukehren und unsere Leidenschaft für die Musik von Dmitrij Schostakowitsch zu teilen. Schostakowitschs Musik ermöglicht es uns, sein persönliches Schicksal nachzuempfinden, da sie die Facetten der menschlichen Existenz widerspiegelt: von Angst, Dunkelheit, beißender Ironie und Sarkasmus bis hin zu kindlicher Verspieltheit, Freude und aufkeimender Hoffnung.“
Mit den Schostakowitsch-Konzerten in Boston und in der New Yorker Carnegie Hall, die im April den Konzerten in Wien vorausgehen, schließt Andris Nelsons das Großprojekt der vergangenen zehn Jahre ab, mit dem BSO alle fünfzehn Symphonien des Komponisten aufzuführen und aufzunehmen.
Für den 46-jährigen Andris Nelsons bilden Schostakowitschs Symphonien eine prägende und zugleich verwirrende Erfahrung. Der Lette erinnert sich im Gespräch daran, wie er Werke des Komponisten erstmals als junger Trompeter hörte, und fügt verschmitzt hinzu: „Wir schlichen uns in Riga meist erst in der zweiten Hälfte der Konzerte durch die Hintertür in den Saal, weil wir wussten, es wird ein Stück von Schostakowitsch geben. Ich verliebte mich in die Symphonien, ohne wirklich ihren Hintergrund zu verstehen. In der sowjetischen Literatur hieß es da oft, seine Symphonien glorifizierten Lenin.“ Für den jungen Nelsons war es anders: „Schostakowitsch war wie jemand, der vom Himmel herabkommt – ein Heiliger.“

Um die Symphonien Schostakowitschs neu zu entdecken, verbindet das BSO die Aufführungen mit einem Projekt, das nicht nur als Festival, sondern als Geisteshaltung verstanden werden kann: „Decoding Schostakowitsch“ – den Komponisten entschlüsseln, ihn befreien aus den Käfigen der Interpretationen, die ihn bis heute eingeschlossen halten. Die Elfte Symphonie, die nun auch im Musikverein erklingt, gibt beredtes Zeugnis davon, wie Schostakowitsch in politisch turbulenten Zeiten Botschaften des Widerstands in seine Musik einfließen lässt – in diesem Werk konkret Bezug nehmend auf den sogenannten „Petersburger Blutsonntag“ im Jänner 1905, an dem die Werft- und Webarbeiter gegen den Zaren aufbegehrten und unter anderem das Ende der Zensur forderten. Man hört sie plötzlich als Metaphern, die nicht nur aus der Vergangenheit her klingen, sondern auch ihr Echo in der Gegenwart finden. Im Interview stellt Nelsons eine weitere Überlegung dazu an: „Als Stalin Schostakowitschs Musik für böse erklärte und unter Zensur stellte, wurde aus dem populären Komponisten plötzlich ein Niemand. Man sollte seine Musik aber nicht nur politisch, sondern in aller Offenheit hören. Mit der Elften Symphonie wird es anders. Bis zur Zehnten hat man den Eindruck, Schostakowitsch fürchte sich nicht vor dem Tod. Doch nun ist diese Todesahnung bedrängend. Trotzdem bleibt sein Geist ungebrochen.“

Donnerstag, 8. Mai 2025
Freitag, 9. Mai 2025

Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons I Dirigent
Baiba Skride I Violine

Dmitrij Schostakowitsch
Violinkonzert Nr. 1 a-Moll, op. 77
Symphonie Nr. 11 g-Moll, op. 103,
„Das Jahr 1905“

Dmitrij Schostakowitsch
Symphonie Nr. 6 h-Moll, op. 54 Symphonie Nr. 15 A-Dur, op. 141

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