Achtsam wachsen: Robin Ticciati dirigiert die Wiener Symphoniker

© Benjamin Ealovega
In Berlin, wo Robin Ticciati unlängst als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters abgedankt hat, trauert man ihm jetzt schon nach. Wien darf sich nun allerdings über zwei Konzerte des charismatischen Dirigenten freuen, der sich stark für die Schärfung des Hörens und Fühlens einsetzt.

Von Albrecht Selge

21.01.2025

Man könnte Dirigent:innen auch mal in diese zwei Kategorien einteilen: solche, bei denen jedes Werk ein absolut eigenständiger Kosmos ist, nach dem Motto „Mag jedes für sich blühen“. Und solche, die selbst die gegensätzlichsten Werke miteinander in Korrespondenz treten lassen. Zu dieser zweiten Kategorie gehört der britische Dirigent Robin Ticciati.
Unter dem Dach eines mehrtägigen Festivals mit seinem Deutschen Symphonie-Orchester (DSO) begegneten einander 2023 Werke wie „Tristan“, „Le Sacre du printemps“ und Skrjabins rauschhaftes „Le Poème de l’extase“ ebenso wie eine Bach-Kantate, mongolischer Obertongesang und Musik des gerade verstorbenen Harrison Birtwistle.
Um Effekthascherei geht es Ticciati dabei nicht, sondern um Feinsinn, um die Schärfung unseres Hörens und Fühlens. Von „Awareness“ spricht dieser Dirigent gern, und bei ihm klingt diese „Achtsamkeit“ nicht nach penetrantem Modevokabel, sondern erfüllt sich mit zwischenmenschlichem Sinn. Das geht bis in seinen Sprechduktus: mit sanfter Stimme und hörbarem Atmen, wie mit einem Anflug von allgegenwärtiger positiver Nervosität.

Der Dirigent als Gärtner: Robin Ticciati setzt sich an seinen Wirkungsstätten für mehr Achtsamkeit ein.

Sein Selbstverständnis als Chefdirigent beschrieb Ticciati einmal als das eines Gärtners, der sich darum kümmert, dass die Musiker:innen künstlerisch wachsen können. Unter sorgsamer Gärtnerhand mitwachsen sollen auch wir als achtsame Hörer:innen.
Wer im Konzert lässige Ablenkung, Zeitvertreib, Zerstreuung sucht (auch ein legitimes Anliegen!), der sollte sich eher an andere Dirigenten halten. Aber wer musikalisch und menschlich mit Ticciati zu tun bekommt, der kann beglückende Vergegenwärtigungen erfahren: etwa wenn, wie in Berlin einmal geschehen, ein Konzert lang Haydn im Wechsel mit Ligeti zu hören ist. Oder wenn, wie in München, das „Parsifal“-Vorspiel es mit George Benjamin und Sibelius’ Siebter Symphonie zu tun bekommt: Musik „about space and time“, so Ticciati.
In Berlin wird es weithin bedauert, dass in dieser Saison Ticciatis Zeit als DSO-Chefdirigent auf dessen eigenen Wunsch endet, manche finden: zu früh. Aber zur Awareness mag eben gehören, dass jemand mit einem Abschied nicht wartet, bis Überdruss eintritt. In Bewegung zu bleiben (wohlgemerkt auch das im achtsamen Sinn, nicht als Jet-set-Syndrom), auch das dürfte für diesen Dirigenten ein Lebenselixier sein. Dass er sich „dazu bewegen“ müsse, war das Gefühl des 15-jährigen Robin, der sich durch den Plattenschrank seiner Eltern hörte und dabei zu Rachmaninows Zweitem Klavierkonzert „dirigierte“.

© Benjamin Ealovega

Wie eine Laune der Natur wirkt es, dass Ticciati eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit dem jungen Simon Rattle hat, nicht nur, was die Locken betrifft. Auf innere Ähnlichkeiten mag hindeuten, dass bei beiden das Schlagzeugspielen zur musikalischen Ausbildung gehörte. Eine Verwandtschaft der Laufbahnen liegt darin, dass Rattle anno 1977 als jüngster Dirigent aller Zeiten in Glyndebourne eine Aufführung leitete, bei jenem Opernfestival, dessen Musikdirektor Ticciati seit zehn Jahren ist. Die tiefste Gemeinsamkeit der beiden dürfte allerdings in einer Art überschäumendem Enthusiasmus liegen, einer Begeisterungsfähigkeit, die auch andere in Bewegung bringt.
Und dann sollte man natürlich direkt nachschieben, dass Ticciati eben kein Rattle Nr. 2 ist, sondern: Robin Ticciati. Dessen Disposition zur Euphorie sich zeitweise auch in einer Tendenz zur Überarbeitung entladen konnte, die vor einigen Jahren mit einem Bandscheibenvorfall böse Folgen hatte, sogar Ticciatis Karriere gefährdete. In der bewussten Awareness liegt also nicht nur Entdeckerlust, sondern auch Selbstschutz. Erleichtert konnte man im Interview mit BR Klassik kürzlich vernehmen, dass Ticciati befand: „The ratio of stress to fun switched a little.“

Kein Oberlehrertum, sondern Selbstbefragung liegt auch in jenen schrägen Blütenmischungen, die Ticciati in Konzertgärten gern aussät und aufzieht. Seine anstehende Wiener Koppelung von Beethoven mit Arnold Schönberg ist dabei, so sehr sie unser Hören auch heute noch herausfordert, schon ein Evergreen der Gesprächsverwicklung. Nicht nur, weil beide ja Wiener Klassiker sind und Schönberg sich immer in der Tradition ihm vorausgegangener Fortschritts-Radikalinskis sah. Ihrerseits zum Klassiker wurde einst Michael Gielens „Unterbrechung“ von Beethovens Neunter mit Schönbergs „A Survivor from Warsaw“: zwischen drittem Satz und Finale, um von Neuem spürbar zu machen, mit welcher dissonanten Unerhörtheit jener Schlusssatz beginnt, der dann – irrwitzig verstiegene Idee – in eine „Ode an die Freude“ münden soll.
In eine freudvolle Ode an die Bewegung mündet hingegen Beethovens Dritte Symphonie, die sogenannte „Eroica“, und das, obwohl an zweiter Stelle ein Trauermarsch steht. Ist der Held des Ganzen da eigenartigerweise wiederauferstanden? Das könnte tatsächlich sein, wenn man die Handlung eines entstehungsgeschichtlich wichtigen Prometheus-Balletts zur Kenntnis nimmt, in dem der Held zwischenzeitlich stirbt. Muss man aber gar nicht so genau wissen. Wir können hierin auch unsere eigene, immer wieder ersehnte Auferstehung aus dem Alltag des Lebens hören, der uns stets von Neuem zermürbt.
Oder eben – Napoleon. Aber nicht als historisches Zeigefingerstück, sondern als eine Art Zeitgenosse. Nur Legende ist zwar die Erzählung, Beethoven habe nach der frechen Selbstkaiserkrönung des genial-entsetzlichen Korsen das Titelblatt seiner neuen, französisch-revolutionär inspirierten Komposition wütend „zerrissen“; aber dass er die angedachte Widmung aus mancherlei Gründen verwarf, stimmt eben doch. Die regelrechte Napoleon-Zerfetzung blieb hingegen dem glühenden Freiheitsschwärmer Lord Byron überlassen, dessen „Ode“ ein hämisches Schmähgedicht ist. An was für einen „Napoleon“ nun Arnold Schönberg dachte, als er 1942 Byrons „Ode to Napoleon Buonaparte“ vertonte, ist leicht zu begreifen.
Wir aber können mit Schönbergs kunstvollem Hammer heute unsere vielleicht allzu große Vertrautheit mit Beethovens „Eroica“ aufbrechen, oder auch mit dem Fünften Klavierkonzert, das im englischen Sprachraum den kuriosen Beinamen „Emperor“ trägt. Und ebenso können wir uns fragen, wer in unseren aktuellen, alles andere als achtsamen Zeiten wohl die selbstgekrönten Kaiser, Führer, Höllenhundesöhne dieser Welt sind. Nicht Vergangenheit, sondern Gegenwärtigwerden, auf vielen Ebenen.

Donnerstag, 20. Februar 2025
Freitag, 21. Februar 2025

Wiener Symphoniker
Robin Ticciati | Dirigent
Kirill Gerstein | Klavier
Cornelius Obonya | Sprecher

Arnold Schönberg
Ode to Napoleon Buonaparte, op. 41b (Fassung für Streichorchester, Klavier und Sprecher)
Ludwig van Beethoven
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur, op. 73
Symphonie Nr. 3 Es-Dur, op. 55, „Eroica“

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