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Musik der Zwischenräume

Beim Komponieren hat Mark Andre stets das fragile Gefüge des Kommens und Gehens von Klängen im Blick, auf allen Ebenen. In einem umfassenden Porträt, das der Musikverein dem deutsch-französischen Komponisten widmet, ist dies in einer breiten Palette an Werken zu erleben – von Miniaturen für Soloinstrumente über Kammermusik bis hin zu großen Orchesterwerken wie jenem, das Mark Andre im Auftrag der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien schreibt.

Früher war die Sache noch einfach, und die Frage, warum Musik überhaupt geschrieben wurde, stellte sich nicht. Seit Anbeginn der abendländischen Mehrstimmigkeit und dann besonders in der Tradition von Bach bis Schönberg ging es vielfach zuerst um ein erlernbares Handwerk und erst dann um Bedeutung. In der Moderne sind diese Ordnungen ins Wanken geraten. Es wurde komponiert, um die Welt zu verändern – oder zumindest sich selbst und die Hörer, oder um sein Innenleben so intensiv wie möglich nach außen zu kehren.

Diametral entgegengesetzt sind die Selbstbeschreibungen des eigenen Tuns zweier der zentralen Tonsetzer der jüngeren Zeit. „Komponieren heißt: über die Mittel nachdenken“ oder aber „ein Instrument bauen“: So formulierte es Helmut Lachenmann, dem es um eine ständige Reflexion des musikalischen Materials und dessen Erneuerung geht. Wolfgang Rihm postulierte hingegen eine radikale Gegenposition, die unmittelbare Emotionalität in den Vordergrund stellt: „Uns muss es schütteln vor Energie, oder wir müssen lautlos sein vor Leere, dann sind wir Komponisten.“ Stellt also der eine das Nachdenken in den Vordergrund – durchaus auch mit dem Anspruch einer Musik, die unausgesetzt über sich selbst reflektiert –, so plädiert der andere für direkten, subjektiven Ausdruck. Diese zwei Positionen schienen vor wenigen Jahrzehnten absolut unversöhnlich und unvereinbar.

Konfrontiert mit diesen beiden Zitaten, formuliert Mark Andre zuerst seine Wertschätzung für beide „verehrten“ Komponisten. Befragt nach seiner eigenen Definition des Schreibens von Musik, führt seine Antwort zum einen auf sehr differenzierte Weise zu konkreten klanglichen Phänomenen, andererseits auch ganz direkt zu einer wesentlichen Quelle seiner schöpferischen Inspiration: „Es geht mir um das möglichst nüchternste, durchsichtigste, zerbrechlichste Beobachtenlassen einer Musik im Prozess des Entschwindens und Verschwindens und um die Entfaltung der intensivsten, instabilsten, zerbrechlichsten kompositorischen Zwischenräume.“ Dieses fragile Gefüge des Kommens und Gehens von Klängen möchte Andre auf allen Ebenen verwirklicht wissen: von der kleinsten Geste bis zur formalen Gestalt.

„Es geht mir um  das möglichst nüchternste, durchsichtigste, zerbrechlichste Beobachtenlassen einer Musik im Prozess des Entschwindens und Verschwindens und um die Entfaltung der intensivsten, instabilsten, zerbrechlichsten kompositorischen Zwischenräume“.

Mark Andre

Jeder Ton, jedes Geräusch – und bei Andre muss man sagen: so wie auch alle Nuancen dazwischen und sämtliche Mischungen aus diesen Qualitäten – ist zum Verklingen verdammt, kann jedoch immer wieder aufs Neue erscheinen, kommen und vergehen. Im Denken des 1964 in Paris geborenen Komponisten sind solche Prozesse zentral. Natürlich spielen sie schlichtweg in jeder Musik eine Rolle, bei ihm treten sie jedoch in den Vordergrund und bedeuten ihm etwas Existenziell-Geistiges, Transzendent-Religiöses: „Das Verschwinden hat eine metaphysische Dimension und bezieht sich unter anderem auf das Abendmahl in Emmaus (Lk 24,13–35). Der ökumenischen Theologie zufolge gehört der Begriff des ,Verschwindens‘ zu den zentralen Botschaften des Evangeliums.“ Die Erzählung des Evangelisten Lukas, wonach der getötete Jesus zwei Jüngern erschien und diese danach die Frohbotschaft von der Auferstehung des Messias verkündeten, lässt sich als Sinnbild für Andres ästhetische Grundhaltung verstehen.

Auch in der Neuen Musik haben sich nationale Schulen etabliert, die sich manchmal verständnislos gegenüberstehen. Dabei war der Serialismus in den 1950er Jahren mit den drei zentralen Proponenten Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono ein transnationales Projekt, in dem es um eine möglichst umfassende Objektivierung der musikalischen Mittel ging: In Erweiterung der Zwölftonmethode von Arnold Schönberg und seinen Schülern wurden nicht nur die Tonhöhen, sondern auch Tondauer oder Lautstärke in Reihen organisiert. Diese enorme Differenzierung wurde in der Folge oft weiter genutzt, ohne die Methode derart streng zu betreiben. Rund zwei Generationen später vermittelt Mark Andre schon biographisch zwischen Frankreich und Deutschland, wo er seit 1995 lebt. Nach seinem Kompositionsstudium in Paris bei Gérard Grisey, einem der Hauptvertreter der Spektralmusik, in der aus (computergestützten) Analysen von Obertonreihen kompositorische Strukturen abgeleitet werden, kam er nach Stuttgart zu Helmut Lachenmann: „Es war für mich das höchste Privileg und eine Ehre, drei Jahre lang sein ,Meisterschüler‘ sein zu dürfen. Dafür bin ich sehr dankbar. Das akribische, nachdenkliche, zerbrechliche Befragen aller kompositorischen Aktivitäten förderte meine Selbstentdeckung. Er hat auch meinen spirituellen, christlichen Weg unterstützt. Bis heute wirkt das für mich als eine unauslöschliche Spur.“

Lachenmanns Ansatz einer „musique concrète instrumentale“, der den feinen Klangnuancen und geräuschhaften Anteilen nachspürt, welche beim Spielen von Instrumenten unweigerlich und immer entstehen, sowie das genaue Nachhören und kompositorische Erfassen von Klangspektren wirken in Andres Werken gleichermaßen als Spuren nach. Dazu kommt bei ihm oft eine live-elektronische Erweiterung, mit der die klanglichen Facetten weiter differenziert und räumlich gestaltet werden. Auch die Instrumente bewegen sich zuweilen in den Raum, so der Solist in „… selig sind …“ für Klarinette und Elektronik, wo sich aus Luft- und Klappengeräuschen eine dichte Aura entfaltet. Häufig sucht Andre vor dem eigentlichen Komponieren sein Material auch in der Alltagswelt, macht Klanganalysen mit technischer Unterstützung und bearbeitet die solcherart gefundenen Klänge dann weiter.

Seit 2009 ist das Mitglied der Akademie der Künste Berlin sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste selbst als Professor für Komposition an der Hochschule für Musik Dresden tätig. Dabei vermittelt Mark Andre seinen Studierenden das, was auch für ihn selbst das Wichtigste ist: das „Nachdenken über die Selbst-Entdeckung. Es geht mir um eine permanente Introversion, in diesem Sinne um eine nach innen und gegen sich selbst, selbstkritisch und das eigene Komponieren orientierte kompositorische Energie. Als fehlerhafter Mensch und Sünder bemühe ich mich darum, die Energie, die Kraft des Heiligen Geistes zu empfangen. Es bleibt eine unerreichbare Herausforderung und bezieht sich um das aramäische Wortfeld der ,Ruach‘ (Atem, Duft, Wind, Geist…).“ So wird Komponieren für Andre zu einer religiösen Übung, die wie eine Meditation oder ein Gebet wieder und wieder betrieben wird – beispielsweise in der Werkreihe „iv“ (Abkürzung für Introversion): eine Folge von Kammermusikstücken, die wie in einer skrupulösen Selbstbefragung klangliche Bruchstücke beleuchten und befragen, bis daraus etwas Neues entsteht.

In der Saison 2022/23 sind Teile aus diesem Zyklus zu hören – ebenso wie Klavier- und Kammermusik Andres sowie Werke für große Besetzung, etwa „an“ für Violine und Orchester mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Markus Poschner und Ilya Gringolts als Solist. Mit besonderer Spannung erwartet werden darf jedoch ein neues Auftragswerk für die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und die Elbphilharmonie Hamburg mit dem Orchestre de Paris unter der Leitung von Klaus Mäkelä. Zum Zeitpunkt des Gesprächs war der Komponist gerade dabei, erste Ideen für die Novität, die direkt vor der 2. Symphonie von Gustav Mahler gespielt wird und den dort formulierten Gedanken der Auferstehung wieder aufnehmen wird, zu sammeln. Doch damals schon hatte Mark Andre ein Anliegen: „Für das Vertrauen und die enorme Loyalität möchte ich mich bei dem Intendanten Herrn Dr. Pauly und bei seinem Team ganz herzlich bedanken. Es bedeutet mir ein wahrhaftes und besonderes Privileg und eine Ehre, in einer so renommierten Institution wie dem Musikverein in Wien meine Musik präsentieren zu dürfen.“

Ein Text von Daniel Ender.

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