Martha Argerich sucht sich mit ihrer sensationellen Frühbegabung – seit ihrem siebten Lebensjahr weiß die Öffentlichkeit davon – Lehrer in der ganzen Welt: Gulda, Michelangeli, Askenase. Leitbild Horowitz. Virtuosität, stupende, paart sich mit Sinnlichkeit, die bestürzend natürlich das Publikum trifft. Dass Liebe nicht kollisionsfrei ist, gerade das macht ihr Spiel so menschennah. Sie sucht die Gefahr und findet Wege, sie zu meistern, und spricht sich aus in Musik. Die frühen Dokumente auf ihren sprichwörtlichen Hochglanz-DG-Aufnahmen, nachdem sie die wichtigsten Preise (etwa Chopin, Busoni) mitnahm, erweisen es. Ihre Debüt-Aufnahmen zielen gleich auf die großen Konzerte: Chopin, Liszt, Ravel mit Abbado; zuvor schon Tschaikowskij, Rachmaninow, Prokofjew und immer wieder das Schumann-Konzert – das Schicksalsstück, das sich ihr anverwandelt hat, nicht sie ihm. Alles das hat man stets bewundert, vor allem auch jenen neuen Prokofjew, den sie uns schenkte: das Perkussiv-Motorische vermochte sie plötzlich mit Charme zu umfangen und eine Schönheit daraus zu „schlagen“. Und dann kam die Bach-Aufnahme: Toccaten, Partiten, Suiten … Bach klavieristisch-modern in der Hoch-Zeit des Original-Purismus vollkommen sinnlich und plötzlich uns unerhört nahe.
Wenn nun die „klassische“ Sternstunde in Wien zustandekommt mit ausdrücklich „romantischem“ Programm wie Schumann und Bruckner, könnte man meinen, hier würden sogenannte „War Horses“ geritten, das also, was auf jeden Fall jedem gefällt. Die Sorge wäre berechtigt, wenn nicht diese Biographien hinter den Interpreten stünden, die Argerich wie Mehta aufzuweisen haben, ein Leben, das im Grunde keine Wiederholung zulässt, weil Leben und Musik in diesen Persönlichkeiten identisch sind. Damit repräsentieren sie zumindest ein halbes Jahrhundert Geschichte, bedeuten kulturelles Gedächtnis, das uns zu bewahren nottut. Und so ist wunderbar, dass Martha Argerich unter Mehtas Stab demnächst in Wien eine mehr als sieben Jahrzehnte nie altgewordene Liebe feiert: Exakt 1952 trat sie erstmals auf mit Schumanns Klavierkonzert. Und von da an war Schumann ihr „Stern“, Stern der gefeierten Chopin-Preisträgerin, grandiosen Prokofjew-Erlöserin, der erregenden Ravel-Zauberin. Einmal hat sie gesagt, ihr sei Schumann näher als Chopin. „Mehr Geheimnis.“ Ihr Wort. Sie ist nicht jene Interpretin, die das Wesen Clara Schumanns repräsentiert, der dieses Konzert auf den Leib geschrieben ist … Martha Argerich ist die Frau von hier und heute, und mit ihr wird dieses Werk auch ein Stück von uns. Sie hat es unter unzähligen Dirigenten gespielt, sogar unter Celibidache – denkwürdig bei diesem Anwalt musikalischer Wahrheit.
Celibidache. Besondere Bewandtnis, die den Menschen und Künstler Mehta wie Weniges zeichnet: eine bewegende Geschichte der Münchner Philharmoniker unter „Celi“ beim Gastspiel im Musikverein, die der Bratschist Gunter Pretzel erzählt: „Wien, Goldener Saal Musikverein, Mitte der 90er Jahre, Celi kurzfristig krank ausgefallen, Zubin Mehta springt ein, Bruckner. Seine große Fähigkeit, das Bestehende zu übernehmen, seine Spannkraft und Frische dazuzugeben. Wie ich es erlebt habe: Im langsamen Satz eine weite Steigerung. Mehta ist auf dem Gipfelpunkt angekommen. Aber: es wächst weiter, über das Maß dessen hinaus, was ihm bisher als Größtes erschienen war … seine Arme bleiben halb erhoben, er schaut uns nur an, fassungslos vor dieser ihn überwältigenden Größe – bis er wieder die Führung übernehmen kann. Beim Schlussapplaus bleibt er im Künstlerzimmer, der Orchestervorstand schaut nach ihm, er sitzt dort mit Tränen in den Augen. Dann kommt er heraus, bittet das Publikum um Stille und sagt: ,Es war nicht nur ich. Jemand anderes, Größeres, hat hinter mir gestanden.‘ Jedem, der damals von uns dabei war, kommen noch heute die Tränen in die Augen, denn auch um uns war es da geschehen.“
Wenn nun Zubin Mehta mit den Wiener Philharmonikern, denen er innig verbunden ist, im Goldenen Saal Bruckners Vierte Symphonie erklingen lässt, wird sich wiederum sein Ohr für das Mysterium offenbaren. Dieses Ohr ist beiden „Ikonen“ eigen, Martha Argerich wie Zubin Mehta: zwei Künstlerpersönlichkeiten, die sich dem Geheimnis nähern und nicht nur Musik „machen“, sondern jenes, mit Goethe, „Unzulängliche“ neu heranrufen. Das also, worauf wir nicht „zulangen“ können – damit es in Musik „Ereignis“ werden kann.
Georg-Albrecht Eckle
Georg-Albrecht Eckle lebt in München und ist Autor und Regisseur – mit einem besonderen Akzent auf dem Dialog zwischen Wort und Musik.