René Clemencic, geboren am 27. Februar 1928 in Wien, verstorben wenige Tage nach seinem 94. Geburtstag, war sehr viel mehr als ein Musiker. Der Sohn aus bürgerlichem Haus, Einzelkind, mit der deutschen und der italienischen Sprache gleichermaßen aufgewachsen, durfte seine vielfältigen Interessen frei entfalten. Der Vater, ein Notar, vermittelte ihm schon früh die Liebe zu Büchern und bibliophilen Druckwerken, und er ließ ihn ohne Vorwurf ziehen, als er es ablehnte, den Weg des Bürgerlichen zu beschreiten und die Kanzlei fortzuführen. René schwärmte ungehindert aus in die Geisteswelt – und durfte sich der Unterstützung durch sein Elternhaus, auch in materieller Hinsicht, stets sicher sein.
„Ich wollte immer nur Musik machen, aber ich wollte mich universeller ausbilden.“ Im Rückblick scheint es, als habe sich mit größter Selbstverständlichkeit eins zum anderen gefügt. An der Universität Wien fand der jugendliche René rasch seinen prägenden Lehrer und Mentor, den Philosophen Leo Gabriel. Der hatte nichts dagegen, dass er für ein Jahr zu Louis Lavelle ans Collège de France in Paris wechselte, um anschließend in Wien seine Doktorarbeit über dessen Theorie von „Sein und Bewusstsein“ zu schreiben. Und er reagierte großzügig, als René das imponierende Angebot, in Wien einen Lehrstuhl für ausländische Philosophie zu übernehmen, ohne Zögern ausschlug.
Aber die Schiene zur Musik war bereits gelegt und fest verankert. Das Klavierspiel hatte René, wie es sich gehört, im Elternhaus erlernt. Die Blockflöte, die ihn früh faszinierte, hatte er sich in der Schulzeit zunächst in Eigenregie angeeignet, ehe ihm sein Klassenkamerad, der spätere Historiker Gerald Stourzh, zu einem Lehrbuch verhalf. Unter denkwürdigen äußeren Umständen, nach einer Begegnung im Stephansdom an einem der letzten Abende im Zweiten Weltkrieg, fand er auch auf diesem Gebiet zu seinem Meister, Hans Ulrich Staeps. In seinen Universitätsjahren studierte er Musiktheorie bei den Größen der Zeit, Josef Polnauer und Erwin Ratz, sowie Cembalo bei Eta Harich-Schneider und Aufführungspraxis alter Musik bei Josef Mertin. 1958, zwei Jahre nach seiner Promotion, leitete er im Stift Heiligenkreuz das erste Konzert des von ihm begründeten Ensembles „Musica Antiqua“, das sich später zum „Clemencic Consort“ transformierte.
Der Musiker René Clemencic war der Gesellschaft der Musikfreunde über mehr als fünf Jahrzehnte eng verbunden. Die Zyklen, die er mit seinen Ensembles Saison für Saison gestaltete, zählten zu den unverzichtbaren Säulen des Abonnementsystems und trugen zur Etablierung der sogenannten Originalklangbewegung im Wiener Musikleben wesentlich bei. Rund 200 verschiedene Programme hat er präsentiert, und sie waren stets voll von Überraschungen. Denn vom populären Repertoire hielt Clemencic sich vorsätzlich fern. Seine Liebe galt ganz entschieden dem Unbekannten. „Wenn 25 Bände mit Werken der Ars nova in Neuausgaben erscheinen – wozu muss man da Beethoven spielen?“ Dementsprechend hatte er sein letztes Konzert am 4. Juni 2019 dem Schaffen des Augustinerpaters Fray Bartolomeo de Selma y Salaverde gewidmet, der am Beginn des 17. Jahrhunderts in Innsbruck und Venedig wirkte. Es war ein Abschied ohne Sentimentalität, ein bewusster Schritt zurück.
Zweimal durfte ich René Clemencic zuletzt in seinem Wiener Universum besuchen, um mit ihm Gespräche für diese Zeitschrift zu führen. Beim letzten Mal, da war er 91, erzählte er voll Begeisterung von Goldoni, dessen Werke er gerade lese. Sechzig Bände in einer wunderschönen bibliophilen Ausgabe – ziemlich kleine Buchstaben in alter Fraktur. Die Augen waren noch vollkommen in Ordnung, der Blick hinter den Brillengläsern klar und aufmerksam. Der Abschied ein Moment intensiver Präsenz: Wir spürten, wir würden einander nicht mehr begegnen.
Auch über das Sterben und den Tod haben wir bei meinen Besuchen gesprochen. Das Thema war keineswegs tabu, es schien vielmehr in sein alltägliches Denken ganz selbstverständlich integriert. Die Reaktion auf meine Frage war jedenfalls sehr gelassen. „Entweder ist danach nix mehr – was ich nicht glaube –, dann tut es auf keinen Fall weh. Oder es ist was, dann ist es auf jeden Fall interessant.“ – Inzwischen weiß er Bescheid. Adieu, René!
Monika Mertl
Prof. Monika Mertl, Kulturpublizistin in Wien, ist Autorin der Biographien von Nikolaus Harnoncourt (Vom Denken des Herzens) und Michael Heltau (Auf Stichwort).