Liest man sich durch die abstoßenden Social-Media-Posts seiner Feinde – und durch die Todesdrohungen –, bleibt am Ende nur Fassungslosigkeit. Darüber, dass ihm für sein Engagement für ein tolerantes Miteinander so viel Intoleranz entgegenschlägt. Was fordert er denn Ungeheures? Respekt vor dem Leben anderer zu haben. Schwächeren zu helfen. Mitgefühl zu haben. Anständig zu handeln. Sollte all das nicht eigentlich selbstverständlich sein?
„In der Öffentlichkeit ist Igor bald der Pianist, der vor dem Konzert Ansprachen hält“, sagt Zinnecker. „Doch für ihn ist dies – anders als für viele Zuhörer – keine Brechung des Rahmens, sondern eine völlig organische Erweiterung.“ Er stehe ja ohnehin auf der Bühne und teile sich mit – warum dann nicht noch ein paar Worte sagen? „Der Gedanke: Im Konzertsaal hört man einander zu, das ist vielleicht die Keimzelle von Mitmenschlichkeit.“ Das Reden hilft ihm gegen die Ohnmacht. Und beim Behalten der Deutungshoheit über die eigene Person. Ein bisschen jedenfalls.
Dann kommt Corona.
Levits spontane Antwort auf den ersten Lockdown: Hauskonzerte aus seiner Berliner Wohnung. Am ersten Abend, dem 12. März 2020, steht Beethovens „Waldsteinsonate“ auf seinem Programm. In die Wohnzimmer seiner Zuhörer gelangt sie als Livestream via Twitter, 80.000 Menschen sind an ihren Bildschirmen dabei. Die Musik hilft nicht nur ihnen, sondern auch dem Pianisten: „Allein zu Hause arbeiten kann ich nicht. Ich wusste, wenn ich keine Perspektive habe, für andere zu spielen, höre ich auf zu üben“, erzählt er in seinem Buch. Die Hauskonzerte seien für ihn von existenzieller Bedeutung gewesen: „Sie haben mich gerettet.“
Am 2. April 2020 spielt er aus dem Wohnzimmer des deutschen Bundespräsidenten im Schloss Bellevue. Die Einladung des höchsten deutschen Repräsentanten ist eine Geste der Anerkennung. Levit spielt erneut die „Waldsteinsonate“. Weil sie das lebensbejahendste, erbauendste, beglückendste, inspirierendste sei, was es in der Klaviermusik gebe. „Ein Stück, das Inspiration schenkt, das Glück schenkt, das umarmt“, sagt er in einer kleinen Ansprache vor Beginn.
Am 2. Mai 2020 gibt er sein 50. Hauskonzert: Bachs „Goldberg-Variationen“. Zwei Tage später hört er auf. Doch er hat bereits eine neue Idee für einen weiteren Livestream: die „Vexations“ („Quälerei“) von Erik Satie, ein Thema und zwei Variationen, die 840-mal wiederholt werden. Dauer: 15 Stunden. Er beginnt an einem Nachmittag um drei, am anderen Morgen um sechs ist er durch. Die Notenblätter wurden anschließend zum Stückpreis von 100 Euro im Internet verkauft, die 84.000 Euro gingen je zur Hälfte an FREO (Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V.) und an den Nothilfefonds der Deutschen Orchesterstiftung.
Am 1. Oktober 2020 bekommt er das Bundesverdienstkreuz verliehen. Ausgezeichnet wird er für sein Engagement gegen Antisemitismus – und für seine Hauskonzerte. In seiner Laudatio sagt der Bundespräsident: „Bei ihm sind künstlerisches Wirken, gesellschaftspolitisches Engagement und Solidarität mit anderen untrennbar verbunden.“
Im September 2021 erhält er den Preis für den Dialog der Kulturen des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa). Das Preisgeld von 10.000 Euro spendet er an die Beratungsstelle Hate Aid, die Opfer digitaler Gewalt unterstützt – unter anderem durch kostenlose Beratungsangebote und Prozesskosten-Finanzierung. Hate Aid sei eine der Organisationen, „die uns Gefährdeten hilft, uns zu wehren, damit diejenigen, die ständig mit Scheiße und Hass um sich werfen und Menschen mit dem Tod bedrohen, die Konsequenzen für ihr Handeln übernehmen müssen“, sagt er dazu.
Dann kommt Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. „Ein Musiker zu sein, befreit jemanden nicht davon, ein Staatsbürger zu sein. Oder davon, Verantwortung zu übernehmen“, postet er wenige Stunden nach dem russischen Einmarsch. „Vage zu bleiben, wenn ein Mann – insbesondere ein Mann, der Präsident des eigenen Heimatlandes ist – einen Krieg beginnt und damit großes Leid über viele Menschen bringt, ist inakzeptabel.“ Und fügt hinzu, niemand möge jemals die Musik und das Musikerdasein als Entschuldigung dafür nehmen, sich nicht zu humanitären Fragen äußern zu wollen. „Do not insult art“, endete er. Übersetzt: Beleidigt nicht die Kunst.
Sein Engagement als Homo politicus geht weiter. Ob er jemals damit aufhört? Unwahrscheinlich.
Margot Weber
Margot Weber lebt als Journalistin in München.