Der Beginn zum Beispiel der ,Symphonie fantastique‘ klingt bei ihnen wie von einem französischen Orchester. Zugleich haben sie ein besonderes Gespür für das slawische Repertoire. Das Dunkle der Leipziger hat dagegen diese nebelartige Qualität, das kann manchmal wirken, als käme der Klang aus dichtem Regen. Die völlig anders geartete Transparenz des Gewandhausorchesters ist an Bach und Mendelssohn geschult. Nehmen wir das Scherzo aus dem ‚Sommernachtstraum‘: Wenn das zu präzise gespielt wird, gerät es maschinell, wenn es zu schwer daherkommt, verliert es das Elfenartige, Huschende. Die Leipziger können das! Auch bei Bruckner, den ich mit vielen großen Orchestern gemacht habe: Wenn Bruckner ‚ppp‘ und ‚lang gezogen‘ schreibt, dann kommt das für mich aus der alten Kirchenmusik. In Leipzig hört man da sofort Bach, ja sogar die Renaissance. Eine solche Qualität findet man wahrlich nicht überall.“ Seine Rolle als Dirigent sieht Nelsons dabei „jedenfalls nicht darin, etwas bewusst umzukrempeln, sondern Traditionen fortzusetzen. Und gleichzeitig alle zu animieren, lieber einen Fehler zu riskieren und dafür eine spannende Phrase zu gestalten, als einfach auf Nummer sicher zu gehen. Strauss einzuspielen war unter diesem Gesichtspunkt besonders aufregend – und ich brenne darauf, das in Konzerten auch mit dem Publikum zu teilen.“
Hinzu kommt freilich auch, dass die Leipziger nicht nur im Gewandhaus, sondern auch in der dortigen Oper spielen, die Bostoner hingegen ein reines Konzertorchester sind. Aber: „Bei Strauss gilt das Gleiche wie bei Mozart: Wenn wir die Opern der beiden nicht kennen, dann fehlt ein großer Teil der musikalischen Persönlichkeit, dann verstehen und kennen wir auch seine Orchesterwerke nicht völlig. Denn Theater und Dramatik spielen bei beiden eine enorme Rolle.“ Aus diesem Grund hat Nelsons in Boston bereits „Salome“ und „Elektra“ konzertant aufgeführt; „Die Frau ohne Schatten“ und vielleicht sogar mehr sollen noch kommen.
Jedenfalls fühlt sich Andris Nelsons von Strauss’ Musik immer wieder berührt. „Er gilt als Eklektiker, der auch angeben wollte: mit Klangfarben, kontrapunktischer und spieltechnischer Virtuosität und so weiter. Natürlich war er ein großer Meister der Instrumentierung. Aber dann ereignen sich diese unbeschreiblichen Augenblicke, wo sich plötzlich der Himmel aufklart und man, egal welcher Religion man nun angehört oder nicht, das Göttliche zu spüren glaubt. Das gibt es eigentlich in jedem Stück. Und selbst wenn man das weiß, ist die Erfahrung in dieser speziellen Dichte dann sehr bewegend. Manchmal versteckt sich Strauss hinter einer Maske, seine ehrliche, reine Seite zeigt er nicht gleich jedem – aber sie ist da. In der wundervollen Schönheit und melancholischen Klarheit des Finales von ‚Don Quixote‘ zum Beispiel, die mich zu Tränen rührt. Strauss hat sich nicht nur als ‚Held‘ des ‚Heldenlebens‘ inszeniert, sondern ist auch in die Rüstung des Ritters von der traurigen Gestalt geschlüpft, er wird eins mit ihm. Das Großartigste ereignet sich nicht automatisch an den lautesten Stellen, ganz und gar nicht. Für mich steckt im letzten ‚Ja, ja‘ der Marschallin der ganze ‚Rosenkavalier‘.“
Dass Richard Strauss, der Bürgerliche, meist strikte Komponierzeiten einhielt wie eine Art Beamter, kümmert Nelsons keineswegs. „Nicht einmal ein Genie kann pausenlos ans Komponieren denken. Ein klarer Terminkalender hilft bei der Konzentration auf das, was gerade wichtig ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass gerade die definierten Arbeitsstunden ihm dabei geholfen haben, mehr zu Papier zu bringen, als andere, chaotischere Geister an einem ganzen Tag geschafft hätten. Man braucht Zeit und muss auch seine Batterien wieder einmal aufladen. Familienleben, Natur, Skatrunden, manchmal Dirigieren: Dabei hat er sich regeneriert.“ Ein wichtiger Punkt für jeden Menschen: Andris Nelsons hat im ersten Corona-Jahr für sich den Sport wiederentdeckt. „In meiner Jugend, von zwölf bis 18 ungefähr, habe ich Taekwondo und Karate ausgeübt – und dann zwanzig Jahre lang nichts dergleichen getan. Während der Pandemie habe ich aber wieder damit begonnen, zuerst für mich zu Hause, dann in Clubs – sowohl in Leipzig als auch in Boston. Ich genieße es, vor allem die körperliche Müdigkeit, die man erzielt: Die macht mich in der Folge auch emotional wieder munterer. Außerdem erfordert es eine gewisse körperliche Disziplin. Auch wir Künstler, ob wir nun ein Instrument spielen, dirigieren oder komponieren, müssen auf unseren Körper achten. Hin und wieder greife ich auch noch zur Trompete, nur zum Spaß, mache Übungen für Atmung und Ansatz. Bei guter physischer Gesundheit kann man künstlerische Gedanken klarer, direkter, aufregender vermitteln, davon bin ich überzeugt.“
Walter Weidringer
Mag. Walter Weidringer lebt als Musikwissenschaftler, freier Musikpublizist, Kritiker (Die Presse) und Sendungsgestalter (Ö1) in Wien.