Othmar Schoeck ist der letzte der großen Liedkomponisten des – mit Verlaub – neunzehnten Jahrhunderts, denn da wohnt das Lied und das vollkommene lyrische Bewusstsein. Und Schoeck, 1886 geboren, 1957 gestorben, reicht ein halbes Jahrhundert ins zwanzigste hinein. Er hat das Lied sozusagen aus dem Geiste von Schubert, Schumann, Brahms, Wolf hinübergerettet in die Zukunft – und wird daher zu oft missdeutet als epigonaler Idylliker aus dem Land des vermeintlich ewigen Idylls Schweiz. Dabei ist er in sich progressiv, was die musikalische Erkenntnis der Seele angeht, steht aber mit seiner Musiksprache für sich, vielleicht gar einsam. Die Zeitgenossen gehen im Grunde andere Wege. Schoecks geradezu exklusives Liedbewusstsein wird schon früh offenbar, das Lied erkennt er als sein Medium und entfaltet es reich und filigran – in rund 400 Liedern.
Christian Gerhaher hat nun klug – in Nachfolge des letzten großen Schoeck-Propheten Fischer-Dieskau – nicht einen Liederstrauß von Einzelliedern programmiert, sondern eben das „Notturno“. Auch wenn Schoeck den zerrissenen Grenzgänger Lenau von frühauf als „seinen“ Dichter erkennt und komponiert, auch wenn er 1922 bereits einen enormen Lenau-Zyklus mit Kammerorchester unter dem Titel „Elegie“ hervorgebracht hat, der auch durch Gerhaher wieder im Gespräch ist – das „Notturno“, ein Jahrzehnt später entwickelt, ist sein Bekenntniswerk, mit dem er sich geradezu bewusst vom puren Lied löst. Die Sprache der Bekenntnisse sei noch nicht erfunden, hat Hofmannsthal so schön gesagt, und sie ist wohl der Musik vorbehalten. Schoeck sucht musikalisch diese Dimension und findet sie in der sublimen Gattung des Streichquartetts, gleichsam in der absoluten Musik, in der er sich mit zwei Streichquartetten (1912 und 1923) „absolut“ erprobt hatte. Aber Schoeck braucht das Wort, nun jedoch anders; und er braucht Lenau.
Braucht Lenau, um wahrhaft persönlich zu werden, um nicht zu sagen: intim. Es geht nämlich bei Lenau nicht – wie oft pauschal behauptet – um den sogenannten romantischen Weltschmerz, sondern konkret um Liebesverlust, der ihn in den Wahnsinn treibt und zur Dichtung als Überlebensakt wird. Grenzgang in allem, und vergleichbar nur dem Schicksal Hölderlins, dem er schon dadurch nahe ist, dass er phasenweise in Schwaben lebte und innige Freundschaft zum Arzt und Geisterseher Justinus Kerner hielt, welcher immerhin Hölderlin in der Tübinger Anstalt gepflegt und dessen visionäre Kraft eben nicht nur als Krankheit erkannt hatte. Bei Lenau – und das kommt der Musik entgegen – sind die sprachlichen Zeichen nicht derartig revolutionär wie bei Hölderlin, sondern, bei aller Fatalität der Inhalte, in der Form überwiegend liedhaft: daher fassbar und dem musikalischen Zugriff offen, sodass Lenau durch die Zeiten zu einem der meistkomponierten Dichter wurde, man denke nur an seine „Schilflieder“, die Klein und Groß in Musik setzten. Schubert nicht, obwohl er mit Lenau bekannt war – zu spät für ihn erschienen dessen Gedichte im Druck.
Schoeck hingegen legt sein eigenes Liebesschicksal auf das dieses Dichters, deshalb gibt er dem „Notturno“ -geradezu eine Dramaturgie des Liebesverlusts. Denn Schoeck trägt wie Lenau Liebeswunden: der Dichter im Leben als wilder „Outlaw“, der im Tollhaus endet; Schoeck subkutan unter dem Mantel der Schweizer Bürgerlichkeit. Man weiß aus der Biographik, vor allem den Forschungen von Chris Walton, dass dem Lenau-Konnex Schoecks das eigene Schicksal zugrunde liegt: eine tief gefühlte, allumfassende, aber gescheiterte Liebe zu Mary de Senger bis in die frühen zwanziger Jahre, dann eine überstürzte Ehe mit einer anderen Frau … und dann: lebenslang in Musik verborgene Passion. Nicht nur der Verlust, der über ein Jahrzehnt zurückliegt, sondern die Ewigkeit des Schmerzes wird im „Notturno“ komponiert – unaufhörliches, stets domestiziertes Leid. Walton erkennt im „Notturno“ die dichteste Umsetzung dieses Liebesleids und spricht vom Mary-Motiv, das im gesamten Opus, aufs zarteste verwandelt oder maskiert, wie manisch immer wieder erscheint – und nicht nur in diesem Werk, eigentlich in allen seit der Trennung von Mary 1923. Eine Liebesmusik, nach außen verhüllt, die als solche auch vor der Gattin virtuos versteckt wird. So manches wird uns damit klar an der Eigenart von Schoecks Musik, auch wenn man bei allen biographischen Konnotationen scheu zu sein hat …