Das Gold des Goldenen Saals bleibt auch auf dem Papier im neuen Design erhalten. Hegen Sie manchmal die Befürchtung, dass diese Betonung auf das edle Ambiente die vielzitierte Schwellenangst hervorrufen könnte?
Das Gold ist und bleibt der Kern unserer Markenidentität. Das hat nicht nur einen visuell-gestalterischen Effekt, etwa auf Plakaten und Programmheften, sondern auch hohen Symbolgehalt, nicht zuletzt für uns selbst. Unsere Abonnentinnen und Abonnenten sind das Rückgrat dieser Institution, und sie können sich darauf verlassen, dass die Konzerte in jeder Hinsicht so „golden“ bleiben werden, wie sie es seit eh und je gewohnt sind. Alles, was neu dazukommt, versteht sich als Ergänzung, als zusätzliches Ideenangebot – und zwar durchaus in jener Balance des Seiltänzers, die Sie vorhin als Bild erwähnt haben. Aber Schwellenängste abbauen ist ein gutes Stichwort. Unser Kinder- und Jugendprogramm erreicht ja jährlich über 50.000 junge Leute, das ist eine traditionell florierende Schiene, die wir noch ausgebaut haben: erstens für die Altersstufe unter 3, für die Allerkleinsten also; und zweitens mit einer neuen Reihe für Kinder ab 3 Jahren, bei der die Stimmgabel eine wichtige Rolle spielt. Zudem wird, für alle Altersstufen angepasst, das Archiv zugänglich – in Taschenlampenführungen, Workshops, Mitmachprojekten. Außerdem sind die Kinder- und Jugendveranstaltungen in alle wichtigen Schwerpunkte der Saison eingebunden. Wir müssen Menschen schon früh die Erfahrung der enorm lebensbereichernden Livemusik ermöglichen – allen Menschen, die hier leben. Durchdringung, Durchmischung ist uns überhaupt ein großes Anliegen, nach außen wie nach innen. Die Festivals, Themenschwerpunkte und Künstlerporträts gehen auch quer durch alle Säle. Unsere Bemühungen um mehr Diversität sind da ein weiterführendes Kapitel, ändern aber nichts daran, das zentrale Konzertgeschehen dieser ehrwürdigen, traditionsreichen Institution mit aller Leidenschaft weiterzuführen. Wir ergänzen es gleichzeitig um neue Angebote, die andere Blicke auf Musik und Musikgeschehen werfen. Denn auch bei 700.000 Besuchern pro Jahr stellen wir uns noch die Frage: Wer kommt nicht – und warum? Wie können wir mit einer diversen, vielfältigen, bunten Wiener Stadtgesellschaft in engeren Kontakt kommen als bisher? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, sie wirklich zu verstehen und neue Schritte auf Menschen zu entwickeln zu können – dafür sind wir eine neue Partnerschaft mit der Brunnenpassage eingegangen und verwirklichen mehrere Projekte, darunter eines mit dem Tonkünstler-Orchester. Das ist der Startschuss für ein längeres, aufregendes Vorhaben der gesellschaftlichen Öffnung.
Sehen Sie auch die neue Reihe „Musikverein Perspektiven“ vom Blickwinkel der Diversität her oder rechnen Sie eher damit, dass sich auch das übliche Konzertpublikum für den Filmregisseur Michael Haneke oder den bildenden Künstler Georg Baselitz interessiert?
Das ist einfach aus der künstlerischen Begeisterung heraus geboren: Michael Haneke ist ein unglaublich leidenschaftlicher Musikmensch, Georg Baselitz ein unfassbar neugieriger, präziser Hörer zeitgenössischer Musik. Allein mit diesen beiden Künstlern jeweils für eigene Festivals Konzertformate und Programme zu entwickeln war schon wunderbar. Wenn jetzt Fans der beiden oder allgemein Kunstliebhaber beispielsweise eine Uraufführung von Olga Neuwirth hören, in der sie einen Baselitz-Text verwendet, dann sind uns die natürlich höchst willkommen. Oder wenn Cineasten sich plötzlich in einem Konzert der Wiener Akademie wiederfinden, weil dort musikalisch Fragen widergespiegelt werden, die der Film „Das weiße Band“ stellt. Oder wenn man in einem Buchbinder-Konzert mit Schubert-Impromptus sitzt, die in Hanekes „Amour“ vorkommen: Man hört sie einfach anders, wenn man zuvor im Film gesehen hat, wie da ein Mann seine todkranke Frau bis ins Sterben begleitet und am Schluss zu einer fatal-liebevollen Handlung findet. Ich bin überzeugt, dass das eine überwältigende Herzenserfahrung sein kann und dass durch das Sehen des Films direkt vor dem Konzert sich auch an Schubert neue Facetten erschließen werden. Und vermutlich sehen Sie das Baselitz-Bild im Museum auch anders, wenn Sie am Vorabend das Neuwirth-Stück gehört haben. Wenn diese neuen Kooperationen mit Filmmuseum, Albertina sowie mit Wien Modern dazu führen, dass sich Publikumssegmente durchmischen, dann ist das schön, war aber gar nicht das Ziel. Das Ziel ist die Kunst. Hier, genauer: der Dialog der Künste mit der Musik.
Eröffnet der Schwerpunkt „Grenzgänge. Tschechische Musik“ einen musikalischen Rundblick auf verschiedene Länder oder ist das ein frei gewähltes Thema, dem ganz andere folgen sollen?
Natürlich gebe ich mit der ersten Saison eine bestimmte Richtung für die nächsten Jahre vor, aber nicht jede Spielzeit wird gleich aussehen. Klar denken wir für das Musikfest wieder über Inspirationen aus der Sammlung nach, aber die anderen Schwerpunkte werden sich immer ein bisschen unterscheiden, es soll ja lebendig bleiben. Also: Nein, es werden keine Länderschwerpunkte kommen, sondern es hat sich dieses Mal ganz organisch aus der Residenz der Tschechischen Philharmonie unter Semyon Bychkov mit drei Orchesterkonzerten entwickelt. Wir ließen es auf alle Teile und Sparten unseres Programms sich auswachsen, bauen überallhin thematische Brücken – in die Kammermusik, ins Lied, in die Kinderprogramme, zu den jungen Künstlern, in die Wort-Musik-Veranstaltungen, die neuen Säle. Dieser Schwerpunkt erklingt mit geballter Kraft im ganzen Haus und ermöglicht etwa zwischen Janáčeks „Glagolitischer Messe“ und der Musik von Gideon Klein die Begegnung mit vielem, das man sonst nicht gehört hätte.
Sie haben die Kammermusik gerade erwähnt: Da gibt es ja auch einen neuen Zyklus.
Ich freue mich sehr darauf, im Brahms-Saal Kammerensembles der Wiener Philharmoniker präsentieren zu können: Das gab es in dieser Form noch nicht, ist deshalb für das Orchester wie für uns etwas Besonderes und eine tolle Ergänzung unserer so engen, symbiotischen Partnerschaft. Mit eingeschlossen ist da ein Konzert der Orchesterakademie der Philharmoniker, die wir gleichfalls im Musikverein willkommen heißen.
Wir haben mit Ihrem persönlichen A begonnen und kehren als unser O in diesem Gespräch nochmals zum A zurück, in Form des „A!“, des Festivals mit 50 Konzerten rund um den Stimmton, den Sie bereits erwähnt haben. Wie sind Sie darauf gekommen und was erwartet das Publikum da?
Ausgangspunkt ist ein ganz ungewöhnliches Objekt der Musiksammlung: ein Kasten aus dem Jahr 1885 mit über 100 Stimmgabeln aus der ganzen Welt, zugeschliffen jeweils auf den vor Ort geltenden Kammerton. Das war für die damals von der Gesellschaft der Musikfreunde einberufene Stimmtonkonferenz, bei der das A dann mit 435 Hertz festgelegt wurde. Und dieses kuriose, kostbare Objekt hat uns zu Programmen inspiriert, die sich zum Beispiel um den Stimmton drehen, um ein tonales Zentrum, die eine bestimmte musikalische Idee variieren. Wir haben den Gedanken aber auch weiter gefasst: Uns interessieren auch Komponisten, die diese Idee, sich an einer Norm zu orientieren, im Großen umgesetzt haben, etwa Haydn an Gattungen wie Streichquartett und Symphonie. Oder, ganz im Gegenteil, Komponisten, die mit den Regeln ihrer Zeit gebrochen haben, von Beethoven bis Berlioz. So ergibt sich ein buntes Panorama an Musik, das sich aber doch an diesem einen Brennpunkt entzündet: der Tatsache, dass Musiker sich auf ein Fixum wie den Stimmton einigen müssen, um gemeinsam spielen zu können. So wurde das verbindende Thema aus der Musiksammlung geboren und erzeugt, wie wir hoffen, Gedanken und Einsichten, zu denen man sonst im Konzertalltag nicht in dieser Form gelangt.
Das Gespräch führte Walter Weidringer.
Mag. Walter Weidringer lebt als Musikwissenschaftler, freier Musikpublizist und Kritiker (Die Presse) in Wien.