Bruckner in Schwarz-Weiß
Um nun Partituren außerhalb von orchestralen Aufführungen zu erlebbarem Klang werden zu lassen, wurde der Klavierauszug erfunden – und erfreute sich bald beachtlicher Beliebtheit. Denn bereits im frühen 19. Jahrhundert ist das Klavier weit verbreitet, man lässt vor allem „höhere Töchter“ das Klavierspiel erlernen, und auf diese Weise halten Symphonien, Opern und Orchesterwerke aller Art Einzug in den bürgerlichen Haushalt. Es handelt sich um eine „Reduktion“, sicherlich – und im Englischen wird auch der Begriff der „piano reduction“ verwendet. Klavierklang statt der Opulenz des großen, farbenreichen Orchesters, aber wann kann man zu dieser Zeit ein solches, und gar ein bestimmtes Werk in der Wirklichkeit hören? Ein regelmäßiges Konzertleben, wie es sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts etabliert, existiert noch nicht, und auch die Konzertsäle warten erst auf ihre Errichtung; man behilft sich mit Theatern und Gaststätten. Immerhin kann das Klavier einen Begriff der Orchesterwerke vermitteln, etwa in der Art – man gestatte den Vergleich – einer Schwarz-Weiß-Reproduktion großer Ölgemälde. In etwas erweiterten Versionen gesellen sich kammermusikalische Ensembles zum Klavier, die Reduktion wird dem Original angenähert – mit oft so originellen Ergebnissen, dass in der Gegenwart vermehrtes Interesse an diesen einst wenig geachteten „Bearbeitungen“ aufkommt.
Nicht zu unterschätzen ist der pädagogische Wert, der den Klavierfassungen zugesprochen wird: Sie ermöglichen, ein Orchesterwerk, das bei erstem Hören in seiner Komplexität kaum ganz zu erfassen ist, sukzessive kennenzulernen. Anton Bruckner kann auf die Hilfe seiner Schüler zählen, wenn es darum geht, die Symphonien – als Orchesterwerke dem Publikum noch unbekannt – zumindest in Klavierfassung aufzuführen. 1887 leitet er die Proben zur Klavieraufführung seiner Fünften, und sein Schüler Friedrich Klose erinnert sich an unerquickliche Szenen: „Dabei vermochten ihm die Spieler bei den Fortestellen nie genug zu tun, wenngleich sie sich fast die Finger blutig schlugen und am Ende ihrer Kräfte waren.“ Dem Klavier ein Bruckner’sches Fortissimo zu entlocken ist in der Tat eine erhebliche Herausforderung.